Ihm bliebe doch der köstliche Gehalt,
Der einmal sein ist, auch ohne jenes Wort.
Mag nun der Überbringer pythagoreischer Kosmologie Timaios oder anders geheißen haben, was eine drittrangige Frage ist, so steht jedenfalls fest, daß der Platonismus neben dem sokratischen und morgenländischen Element auch einen mindestens ebenso schwerwiegenden Bestandteil von Pythagoreismus enthält. Dieses drittgenannte Ingrediens hat um so mehr Gewicht, als vieles, was man als den „Orientalismus” Platons bezeichnen kann, ihm über die Schule des Pythagoras zugekommen ist oder zumindest von Quellen abstammt, aus denen auch der Stammvater des Pythagoreismus geschöpft hat.
Sowenig an der geschichtlichen Wirklichkeit der Gestalt des Pythagoras zu zweifeln ist, so dürftig sind die im Sinne moderner Historiographie zuverlässigen Nachrichten über sein Leben und seine Philosophie. Das erklärt sich daraus, daß, wie schon gesagt, Pythagoras keine Schriften verfaßt hat oder daß zumindest keine von ihm bekannt geworden sind. Wir besitzen keine einzige Zeile von seiner Hand. Wenn er Bücher geschrieben hatte, dann mußten sie jedenfalls zu den bestgehüteten und nur wenigen Auserwählten zugänglichen Schätzen seines Geheimbundes gezählt haben. Was wir über ihn und seine Lehre mit Sicherheit wissen, geht auf einige Abtrünnige zurück, dann auf vereinzelte Anekdoten in den Fragmenten anderer Vorsokratiker und schließlich auf Herodot und Platon; hinzu kommen noch etliche stark wahrscheinliche, vielleicht aber auch von ihm nicht mehr recht verstandene Nachrichten bei Aristoteles. Jamblichos’ Buch über das Leben des Pythagoras ist erst ungefähr achthundert Jahre nach dem Tode des Philosophen verfaßt worden; sein Autor hat allerdings viele ältere Quellen ausgewertet. Der sogenannte Pythagoreische Lehrsatz, demzufolge bei einem rechtwinkeligen Dreieck der Flächeninhalt des Quadrates über der Hypotenuse c gleich der Summe der Flächeninhalte der Quadrate über den Katheten a und b ist (a 2 + b 2 = c 2), war schon vor ihm den Babyloniern bekannt; und zum Beweis für die Richtigkeit des Satzes fehlten Pythagoras die dafür notwendigen mathematischen Grundlagen.
Pythagoras war der Sohn des auf der Insel Samos ansässigen Goldschmiedes und Kaufherrn Mnesarchos. Ob er auf Samos oder in Tyros geboren wurde, wohin seine Mutter den Vater auf einer Geschäftsreise begleitet hatte, ist strittig. Als sein Geburtsjahr kann man 570 annehmen; manche Berechnungen lassen ihn früher (um 580), andere später (um 560) geboren sein. Doch sei dem wie immer, die jonische Insel Samos, auf der Pythagoras aufwuchs und — abgesehen von ausgedehnten Reisen nach Babylon und Ägypten — bis in seine reifen Mannesjahre blieb, zeichnete sich damals bereits durch eine hohe, teilweise schon sehr verfeinerte Kultur aus. Samier hatten an der Kolonisation in Perinthos, Amorgos und Naukratis teilgenommen, und bereits um 660 war Kolaios von Samos als erster Grieche bis zum Atlantischen Ozean vorgestoßen. Für den Wohlstand der Stadt zeugen der Ausbau des großen, von einer doppelten Säulenreihe umgebenen Tempels zu Ehren der Hera, die auf der Insel dreihundert Jahre lang in geheimer Ehe mit Zeus gelebt haben soll, die Stadtmauern, Hafenmolen und die berühmte Wasserleitung, die in einem etwa tausend Meter langen Tunnel durch den Stadtberg geführt war. Das Heraion auf Samos, das bedeutendste Heiligtum der Gemahlin des Göttervaters neben dem zu Olympia, galt als eines der sieben Weltwunder. Es besaß zahlreiche Nebenbauten, Altäre, Hallen, Badehäuser und Hunderte von kostbaren Weihegeschenken, darunter vor allem große Bronzekessel und Standbilder aus Marmor. An den Hof des reichen und luxusliebenden Tyrannen Polykrates, der von 538 (seit 532 allein) bis 522 regierte und, gestützt auf Söldner und eine starke Flotte, auch über viele Inseln und Küstenstädte Kleinasiens herrschte, kamen neben dem berühmten Arzt Demokedes die Dichter Anakreon und Ibykos.
In dieser Welt also wuchs der reiche Kaufmannssohn Pythagoras auf, der sich schon früh für religiöse und kosmogonische Fragen interessiert zu haben scheint. Er soll nämlich, so wird berichtet, sich mit achtzehn Jahren zunächst zu seinem Onkel auf die Insel Lesbos begeben haben, um dort die Unterweisung durch den von der kleinen Insel Syros stammenden Pherekydes zu genießen, der eine noch stark mythische Weltentstehungslehre darlegte, die mehr an die der Orphiker als die des Hesiod erinnert. Pherekydes hat als erster die Ansicht vertreten, daß die menschliche Seele unsterblich sei und immer wieder auf die Erde zurückkehre, um sich erneut zu verkörpern. (Cicero: Tusculanische Gespräche I 38). Diese Lehre, die damals nur in Indien ausdrücklich und systematisch formuliert war, wurde für Pythagoras von bestimmendem Einfluß. Zwei Jahre später besuchte Pythagoras in Milet auch den greisen Philosophen Thales. Auf dessen Rat hin, heißt es bei Jamblichos, sei er nach Sidon in Phönikien und dann weiter nach Ägypten gesegelt:
„In Sidon begegnete er den Nachkommen des Philosophen und Propheten Mochos und den übrigen phönikischen Hierophanten. Er ließ sich in alle Mysterien einweihen, die in Byblos, Tyros und in vielen Teilen Syriens in besonderer Weise begangen wurden.”
Bereits damals war Pythagoras mit einer ganzen Reihe von kultischen Geheimbünden in enge Verbindung getreten; ja es gelang ihm sogar, in sie als Myste aufgenommen zu werden. Doch die phönikisch-syrische Esoterik genügte ihm nicht. Sie erschien ihm bloß als Ableger viel älterer und ehrwürdigerer Geheimlehren und Mysterien, die von mächtigen Kollegien eifersüchtig bewahrt und nur wenigen Auserwählten nach langen Prüfungen zugänglich gemacht wurden: der ägyptischen Priesterweisheit, wie sie in Heliopolis, Memphis und Theben blühte. Jamblichos berichtet, zweiundzwanzig Jahre lang habe Pythagoras in engstem Umgang mit der ägyptischen Priesterschaft in Theben verbracht. Unter strengsten Bedingungen zu ihren Kulten zugelassen, sei er Stufe für Stufe in immer tiefere Geheimnisse eingeweiht worden. Als im Jahre 526 der Perserkönig Kambyses das Land der Pharaonen eroberte, wurde er, wenn wir Jamblichos glauben dürfen, mit Tausenden der angesehensten Ägypter, darunter auch zahlreichen Priestern, als Gefangener nach Babylon abgeführt. Doch kaum war er dort angekommen, gelang es dem mysteriendurstigen Griechen abermals, zu den nicht nur die Götterverehrung, sondern auch Mathematik, Musik und andere Wissenschaften pflegenden Priestern des fremden Landes Zugang zu finden. Er verkehrte dort, wie Jamblichos ausdrücklich sagt, mit den „Magiern, die an ihm dasselbe Wohlgefallen fanden wie er an ihnen.”
Diese „Magier”, mit denen er in Babylon verkehrte, bildeten eine Art Erbkaste von Priestern, vergleichbar den indischen Brahmanen und den israelitischen Leviten. Wenngleich ihre Beziehungen zur Religion Zarathustras noch immer nicht ganz geklärt sind, so steht jedenfalls fest, daß sie viele zarathustrische Riten und Gebräuche übernommen hatten und schließlich als Jünger des iranischen Propheten galten. Wie Herodot berichtet, deuteten sie Träume, prophezeiten durch Opferung weißer Rosse und sangen während der gottesdienstlichen Feiern religiöse Hymnen. Das Christentum lehnt zwar die Magie als heidnische Zauberei oder sogar als Teufelsblendwerk ab, doch im Evangelium nach Matthäus (2, 1-12) huldigen gottesfürchtige und sternkundige „Magier” (Magoi) dem vor kurzem geborenen Jesusknaben. Die im deutschen Raum meist „Heilige drei Könige” oder auch „Weise aus dem Morgenlande” genannten Besucher aus dem Osten waren Nachkommen jener Magier, von denen Pythagoras mehr als ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt Unterricht und Einweihung erhalten hatte. Trotz der stark legendenhaften Züge des Besuchs der Magier in Bethlehem, wo über dem Hause, in dem sich Maria mit dem Kinde befand, der Stern aus dem Osten stehenblieb, ist es nicht unwahrscheinlich, daß um die Zeitenwende auch die persische Priesterkaste der Magier davon gehört hatte, wie sehnsüchtig im Judentum ein Messiaskönig erwartet wurde. Es ist sogar möglich, daß sie ihn mit dem zarathustrischen Helfer (sausbyant) im Kampf zwischen Licht und Finsternis gleichsetzten und deshalb einige ihrer Mitglieder in die Fremde aufbrachen, um diesem Heilbringer zu begegnen.
Doch wie immer es um den geschichtlichen Kern des Evangelienberichts bestellt sein mag, sicher ist zumindest eines: die volkstümlichen „Heiligen drei Könige”, die seit dem neunten Jahrhundert die Namen Kaspar, Melchior und Balthasar tragen, waren „Magier”, also Träger uralten Geheimwissens und Abkömmlinge jener sternkundigen Priesterkaste, die den aus Ägypten nach Persien verschleppten Griechen Pythagoras zwölf Jahre lang unterwiesen hatte. In den romanischen Sprachen ist, anders als im Deutschen, die Erinnerung an ihr Magiertum deutlich aufbewahrt. Im Italienischen heißen sie Re Maghi, im Französischen Rois Mages, im Spanischen Reyes Magos. Magier gehörten neben Engeln, Hirten und Tieren zu den allerersten Verehrern des neugeborenen Christusknaben.