Will man es systemtheoretisch formulieren: Dem Gesellschaftssystem und den Organisationssystemen stehen Mechanismen wie Differenzierung, Gleichzeitigkeit, Unterbrechungen, Selbstzerstörung von Strukturen, evolutionäre Brüche und radikale Beschleunigung zur Verfügung. Psychischen Systemen, den Körpern von Menschen, aber auch auf Langfristigkeit gebauten Versorgungsbeziehungen (wie Elternschaft, Pflege) stehen diese Mechanismen nicht zur Verfügung. In der Forschung der 1980er-Jahre hat man für die industriegesellschaftliche Moderne von der »Institutionalisierung des Lebenslaufs«6 oder von einem institutionengestützten »life course«7 gesprochen. Gemeint war die versicherungstechnische, institutionelle, sozialpolitische, gesetzliche, arbeitsorganisatorische und auch mentale Herstellung von Kontinuität in einer diskontinuierlichen Welt.
Die großen politischen Spieler der westlichen Länder gruppierten sich fast nur um diese Frage:
•Für Konservative ging es um die Rettung sogenannter gewachsener Lebensformen und die Verteidigung einer überkommenen Schichtung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Anerkennung der modernen Komplexität, die sie vor allem durch Rekurs auf die imagined community der Nation als Einheit simulieren, die die Gesellschaft nicht ist. Die semantische Übersteigerung der Nation reagiert auf die Unmöglichkeit, mit ihr das zu kompensieren, was der Konservatismus für die eigene Tradition hält. Deshalb ist der Konservatismus eine eminent moderne politische Form, weil er eine semantische Problemlösung für Modernisierungsfolgen anbietet. Die Staatsnähe des Konservatismus ist eine Nähe zum Staat als Garant einer gewachsenen Ordnung, wozu meistens auch die Wirtschaftsordnung gehört, dazu gehört auch die Etablierung sozialpolitischer Maßnahmen – gerade in Deutschland deutlich an den unterschiedlichen Quellen in der katholischen und auch evangelischen Soziallehre einerseits, in der sozialistischen andererseits. Konservative Formen der Herstellung von Kontinuität sind Formen, die an Strukturen ansetzen, die in der Gesellschaft bereits als vorhanden gelten: regionale Traditionen, Berufsstände und familiale Kontinuitäten.
•Für die Sozialdemokratie oder sozialistische politische Akteure ging es noch expliziter um die Herstellung von Kontinuität in einer diskontinuierlichen Wirtschaftswelt. Es ging darum, trotz Volatilität von Märkten eine Lebens- und Versorgungsperspektive für die arbeitenden Menschen zu ermöglichen. Es ging um die Erzeugung von Kontinuität, weswegen solche Parteien in der Vergangenheit tatsächlich mehr als nur politische Organisationen waren, sondern auch Bildungs- und Kulturorganisationen als Identitätsangebot für diejenigen, die frei von traditionellen Versorgungsstrukturen waren. Klassische sozialdemokratische Politik zeichnete sich durch eine größere Bereitschaft zur Umverteilung aus.
•Der politische Liberalismus schließlich stand einerseits für Abwehrrechte gegen einen autoritären Staat, andererseits für die Idee, der Volatilität und Eigendynamik der Gesellschaft und den ordnungsbildenden Kräften des Marktes zu vertrauen. Der Liberalismus war auf der einen Seite eine starke Freiheitsbewegung, die von der Kritik der Bevormundung durch den Staat, die Kirche, durch Traditionen und tradierte Lebensformen geprägt ist. Darin ist der klassische Liberalismus vor allem an den Bürgerrechten orientiert. Andererseits neigt er bisweilen zu einer merkwürdigen Anfälligkeit für rechte Ideologien, weil eine der Konsequenzen eines staatsfernen Liberalismus dem Recht des Stärkeren und der Verdrängung des Schwachen nahesteht.
Genau gesehen gruppieren sich die zentralen politischen Konflikte noch immer um diese Formen, die Zugehörigkeiten, Zeitperspektiven und Kontinuitäten auf unterschiedliche Weise erzeugen wollen. Diese Differenzierung von politischen Bewegungen folgt letztlich einem einzigen Bezugsproblem: der Positionierung und Kontinuität von Leben in einer volatilen, ausdifferenzierten Gesellschaft. Die Lösungen sind unterschiedlich, aber das Bezugsproblem ist dasselbe.
Die Krise der klassischen Parteien, wie sie hier als konservative, sozialdemokratische und liberale Formen idealtypisch aufgelistet sind, liegt dann womöglich viel weniger an der Krise der konservativen, sozialdemokratischen oder liberalen Variante, sondern an einer Krise der politischen Konflikte. Die klassische westliche nationalstaatliche Gesellschaft, die zumindest der weltgesellschaftliche »Westen« seit dem 19. Jahrhundert für das gesellschaftliche Grundmodell schlechthin gehalten hat, hat diese Bedingungen des Überlebens als ein Problem der vor allem staatlichen Herstellung von Kontinuität gehalten. Dass zur staatlichen Aufgabe des Nationalstaates die Organisation einer dauerhaften Ordnung gehört, einer Ordnung, die erwartbare Abläufe sichert und Massenloyalität erzeugt, weist auf dieses Bezugsproblem hin. Die katastrophischen Teile der gesellschaftlichen Moderne haben stets etwas mit dem Problem zu tun gehabt, diesen Ort der Ordnung in Abgrenzung zu anderen zu etablieren. Dazu gehört die nationalistische Erfindung von communities8 als Ersatzorte für eine multizentrische Welt, die Erfindung des Fremden und die fast universale Etablierung des Antisemitismus und des Rassismus/Kolonialismus. Dazu gehören die totalitären Versuche der Gesamtsteuerung der Gesellschaft in ihrer faschistischen, nationalsozialistischen, aber auch in ihrer kommunistischen Variante. Diese Krisenformen der Moderne haben letztlich alle dort angesetzt, wo es um die Überlebensbedingungen des eigenen Personals ging – allesamt gepaart mit der historischen Ironie, dass diese Überlebensregime besonders viele Todesopfer durch Kriege, Vernichtung und Hungersnöte erzeugt haben. Sie sind allesamt keine Dementierung der Moderne, sondern laborieren direkt an ihrem Bezugsproblem, der Herstellung von Kontinuität in einer volatilen Welt.
Das Ende des »Goldenen Zeitalters«
Eric Hobsbawm hat die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und Nordamerika als eine Art »Goldenes Zeitalter« bezeichnet. Vielleicht ist es damals noch am ehesten gelungen, ökonomische, politische, rechtliche und kulturelle Aspekte so miteinander zu verbinden, dass sich ökonomische Potenz und langfristige Versorgungsbeziehungen, Zugehörigkeiten und Weltoffenheit, geschlechtliche Arbeitsteilung und Bildungsorientierung miteinander verbinden ließen. Vielleicht liegt es an der Kombination einer industriellen Produktionsweise, die schon investitionstechnisch auf Langfristigkeit angelegt und zugleich auf langfristig verwertbare Arbeitskraft angewiesen war, mit den Kontinuitätserwartungen von Lebensformen und nationalstaatlicher Entscheidungsautonomie.
Diese Bedingungen geraten unter Druck: nationalstaatliche Autonomie, volatile Märkte mit tiefem globalem Vernetzungsgrad ebenso wie die durch Digitalisierung ungeklärte Frage des Beitrags der arbeitenden Menschen an der Wertschöpfung, die Frage der kulturellen Zugehörigkeit ebenso wie die Asymmetrie von Milieus und Geschlechtern haben diese Passung infrage gestellt. Jedenfalls zeichnet sich ab, dass die klassischen politischen Positionen nicht mehr genügend Konfliktpotenzial entfalten, um angesichts dieser Herausforderungen konkurrierende Lösungen für diese Überlebensfrage anzubieten. Zumindest sollte deutlich geworden sein, welche Sprengkraft die gesellschaftliche Institutionalisierung von Kontinuität und Überlebensbedingungen der Menschen birgt. Die Frage ist tatsächlich: Passen wir überhaupt in diese Welt?
Der Streit um die Identitätspolitik, der derzeit geführt wird, gehört übrigens direkt in diese Kategorie von Konflikt. Der Vorwurf gegen identitätspolitische Ansprüche lautet oft: Ihr kümmert euch nicht um die klassischen Konflikte der modernen Gesellschaft, um gerechte Verteilung von Gütern und Daseinsvorsorge, sondern nur um kulturelle Repräsentation. Und in der Tat geht es hier um Zugehörigkeiten und Anerkennungsverhältnisse, aber damit gehören sie geradezu in den klassischen Kanon der kontingenten und fragilen Herstellung von Orten, an denen sich Personen bewegen können. Denn gerade die Komplexität der Gesellschaft und ihre Indifferenz für konkrete Lebenslagen erzeugen geplante und ungeplante Strukturierungen von Zugehörigkeit und Anerkennung in bestimmten Räumen. Identitätspolitische Fragen docken vor allem an zugeschriebenen Merkmalen an – am Geschlecht, an der ethnischen Herkunft, an der Hautfarbe oder an der sexuellen Orientierung, und damit versuchen sie letztlich ähnliche Probleme zu lösen wie frühere Institutionenarrangements.
Weist das womöglich in die Richtung, in der Gesellschaften in Zukunft dieses Bezugsproblem lösen? Vielleicht – und wenn ja, wären das völlig andere Konstellationen als die bisherigen. Vielleicht sind sie auch nur ein Übergangsphänomen dort, wo die klassischen Institutionenarrangements noch einigermaßen funktionieren – deshalb ist die entsprechende Trägergruppe solcher Debatten auch eher weniger nah an der ökonomischen Wertschöpfungskette und doch in ökonomisch vergleichsweise stabilen und wenig volatilen Zusammenhängen zu finden. Vielleicht ist es ein