In der Diskussion zwischen Jürgen Habermas und Klaus Günther in der ZEIT vom Mai 2020 wurde deutlich, dass die Väter des Grundgesetzes keine Ahnung von den Möglichkeiten der Intensivmedizin hatten. Aus diesem Grund war auch keine politische Situation denkbar, die verlangen würde, Grundrechte einzuschränken, um die Verfügbarkeit einer optimalen medizinischen Versorgung zu sichern.
In einer technisch-wissenschaftlich aufgeklärten Welt schmilzt der Fatalismus dahin wie die Gletscher im Klimawandel. Naturkatastrophen bedeuteten jahrhundertelang nichts außer der Nichtigkeit des Menschen im Angesicht der Naturgewalten. Heute ruft der Mensch die Naturkatastrophen selbst hervor. Sie sind mit moralischer Bedeutung aufgeladen und strapazieren nicht nur die materielle Leidensfähigkeit, sondern auch die seelische durch Schuldgefühle und Zorn.
Forscher leben riskant, wenn sie uns den Spiegel vorhalten und das gute Gewissen rauben. Sie wecken den Affekt, einen Boten für seine Botschaft zu strafen. Inzwischen gibt es Eiferer, die Virologen mit Morddrohungen verfolgen. Plakate, auf denen »Corona-Kritiker« hierzulande Immunologen beschimpfen, wirken geradezu zivilisiert gegenüber einer Aktion im afrikanischen Womé, wo 2014 acht Experten verschwanden, die über Ebola forschen wollten. Suchtrupps fanden die Leichen später in einer Zisterne.
In der Tat haben Forscher düstere Botschaften überbracht, von denen wir 1970 nichts wussten. Der Blick auf Viren hat sich radikal verändert. Den wichtigsten Einbruch in eine Front der Sorglosigkeit verursachte das HIV-Virus. Es hat dem Mythos vom starken Immunsystem als Schutzmacht ein ebenso jähes Ende bereitet wie der angstfreien Promiskuität.
Eine HIV-Infektion wird ganz und gar nicht von einem intakten Immunsystem »hinweggefegt«. Im Gegenteil: Die Erreger dringen in die Zellstrukturen der körpereigenen Abwehr ein und legen diese lahm. Zum ersten Mal wurde bei HIV ein Test zum Orakel über Gesundheit oder Siechtum.
Der Mythos des todbringenden Virus
Obwohl HIV-Infizierte heute behandelt werden können und die Ansteckung nicht mehr tödlich ist, hat dieser Schock das Bild der Virusinfektion ebenso radikal verändert, wie er die Forschung auf diesem Gebiet beschleunigte und intensivierte. Von da an ist der Mythos vom todbringenden Virus in den Medien fest verwurzelt; er kann auf Leinwand und Bildschirm jederzeit epidemisch werden.
Im Kinofilm Outbreak – Lautlose Killer will ein General eine Stadt bombardieren, um die menschliche Quelle einer tödlichen Epidemie auszuradieren, ehe sie das ganze Land erfasst. Glücklicherweise entdecken die Spezialisten gerade noch rechtzeitig das Gegenmittel. Im Fernsehen gefährden Terroristen das Leben von Millionen mit einem gefüllten Reagenzglas und werden in letzter Minute abgehalten, es über New York auszukippen.
Waren deshalb 2020 so viele Regierende bereit, die wirtschaftlichen Interessen ihrer Länder zurückzustellen? Vermutlich nicht nur, aber auch. Ich denke nicht, dass sich der radikale Schritt »von der Welle zur Krise« allein darauf zurückführen lässt, dass seit Aids und Ebola die Menschen mehr Angst vor Viren haben. Auch die zwischenmenschliche Haltung und das gesellschaftliche Klima haben sich verändert. Seelische Verletzungen spielen heute eine größere Rolle. Sexuelle Übergriffe auf Kinder galten in den 1960er-Jahren als ekelhafte Bagatelle, manchmal sogar als »Befreiung« der kindlichen Sexualität. Heute alarmieren sie die Bevölkerung; der Strafrahmen wurde erweitert und verschärft.
Als ich 1948 eingeschult wurde, war es noch selbstverständlich, dass sich die Lehrerin durch den »Tatzenstock« Respekt verschaffte. Schläge auf die flache Hand galten als legitimes Erziehungsmittel. Wir haben langsam, Schritt für Schritt, die teils militärisch geprägten, teils faschistisch akzentuierten Vorstellungen über die Privilegien der Starken abgebaut.
Wer auch immer die körperliche und seelische Integrität anderer verletzt, wie auch immer er oder sie es tut – weit über die Gesetze hinaus, die solche Täter verfolgen, greifen auch die Medien nach diesen Fällen und prangern sie an. Der Staat darf nicht mehr träge sein, wie er es in diesen Punkten früher war.
Das Verbot von physischen Strafen, ein anderes Verständnis von Sexualität, die Einsicht, dass Vergewaltigung auch in der Ehe ein Verbrechen ist, das geschärfte Bewusstsein für den Missbrauch von Kindern, für die sexuelle Nötigung in Abhängigkeitsverhältnissen – das alles waren Schritte zu mehr Empathie in Schwächere, Schranken gegen den Vorrang der Starken. Es war ein langer und langsamer Weg. Gebahnt haben ihn mehrere Generationen in wachsendem Gefühl für die Verletzlichkeit des Lebens.
Die fatalistische Haltung gegenüber Epidemien läuft auf das soldatische Motto hinaus: Der Gute hält es aus; um den Schlechten ist es nicht schade. Der Gedanke, dass jedes einzelne Leben kostbar ist und die Rede von Kollateralschäden inhuman, hat mehr und mehr an Macht gewonnen. Wer – wie ich – im Krieg geboren und in der Nachkriegszeit aufgewachsen ist, spürt diese Veränderungen deutlicher als andere. Vielleicht ist das, was 2020 geschehen ist, auch ein Zeichen dafür, dass die Nachkriegszeit (die ja, anders als der Krieg, kein fassbares Ende hat) definitiv vorbei ist. Der Gedanke, das Volk hart zu machen für den nächsten Krieg, hat keine Schlagkraft mehr. Es dominiert die Sehnsucht nach sicheren Grenzen, nach einer wieder überschaubaren Welt.
Die Bedingungen der Immunabwehr
Zwischen dem Problem und dem Dilemma zu unterscheiden, ist ein Denkmodell, das uns in schwierigen Situationen weiterhilft. Während das Problem gelöst werden kann, ist das Dilemma unlösbar. Grundsätzlich ist die Struktur eines Problems also einfach. Beim Dilemma wird es kompliziert. Die Corona-Krise der vergangenen und der aktuellen (Sommer-)Monate demonstriert die Schwierigkeiten, vor denen wir stehen, wenn wir mit der Struktur des Dilemmas konfrontiert sind und darüber hinaus das fatalistische Denken einem empathischen gewichen ist.
Ansteckung ist ein typisches Problem mit klarer Ansage: Ich bin entweder infiziert oder nicht. Das Dilemma meldet sich, sobald wir uns über die komplexen Bedingungen der menschlichen Immunreaktion informieren, die darüber entscheidet, ob und wie wir eine Virusinfektion bewältigen. Wenn ich kategorisch verbiete, dass alte Menschen in Heimen von ihren Angehörigen besucht werden, schütze ich sie hoffentlich vor Covid-19. Gleichzeitig löse ich aber womöglich eine Depression aus, die ihre Abwehr so sehr schwächt, dass sie einem der Keime erliegen, die schon vorher im Heim zirkulierten.
Die Indifferenz des fatalistischen Denkens konnte Normalität erhalten, die heute durch perfektionistischen Eifer eingeschränkt wird. Auf dem Weg zum einfühlenden Denken haben wir erst den halben Weg zurückgelegt. Es wurde und wird nach wie vor über Maßnahmen debattiert, die für einen minimalen Gewinn an Kontrolle den Menschen Möglichkeiten rauben, sich überhaupt noch sicher und geborgen zu fühlen in dieser neu geschaffenen Sozialwelt. Jogger im Stadtpark festnehmen? Verbieten, dass mit Hunden Gassi gegangen wird? Vor allem in Ländern, die erneut steigende Fallzahlen berichten, flammen solche Diskussionen über Maß und Mitte wieder auf.
Obwohl der Fatalismus der vergangenen Jahrzehnte passé ist, hat der hohe Organisationsgrad des modernen Zusammenlebens eine wenig reflektierte Entwicklung hin zu einem eher kalten Denken in simplen Alternativen induziert. Eine auf plakative Vereinfachung zielende Konstruktion des medialen Events gibt vor, wir könnten ein Dilemma in ein Problem zurückverwandeln – mit schwerwiegenden Folgen. Wer in Zeiten großer Unsicherheit die Gefahr erst verleugnet und dann durch »radikale« Gegenmaßnahmen wieder Punkte gewinnen möchte, tut den Bürgern keinen Dienst.
Die Ansteckung ist ein Problem – die Unterstützung des Immunsystems ein Dilemma
Nicht die realistische, sondern die dramatische Gefahr, nicht der statistisch viel häufigere Autounfall, sondern