Blinder Glaube an den Götzen der Todesvermeidung für alle und um jeden Preis hat die Macht übernommen. Und in jungen Menschen, in denen der Drang zum Amüsieren steckt, entlädt sich der Frust, wenn die Polizei versucht, Regeln durchzusetzen, wie etwa jüngst auf dem Frankfurter Opernplatz oder in der Stuttgarter Innenstadt. Wenn es noch einen Beweis für die Entbehrlichkeit des realen Helden in der Konsumgesellschaft braucht: Das Jahr 2020 lieferte ihn. Die Kirchen, in denen wir immerhin noch Bilder eines gekreuzigten und auferstandenen Helden sehen könnten, waren lange Zeit geschlossen.
Der Vergleich mit historischen Seuchen wie der Pest ist schief. In der Antike oder im Mittelalter wäre eine Infektion, welche fast alle Gesunden überleben, nicht einmal der Geschichtsschreibung überliefert worden. Damals fehlte die heute umfangreiche Gruppe chronisch Kranker, die keine zusätzliche Schädigung mehr vertragen können (und die, statistisch korrekt, aber im Einzelfall oft voreilig, mit den Alten gleichgesetzt werden).
Abgesehen von Diktatoren, die ihre Medien gut unter Kontrolle haben, begann im März 2020 eine manchmal absurde Konkurrenz, wer eine Quarantäne, die das öffentliche Leben lahmlegt, radikaler durchsetzt als der andere. Frische Luft, das Vitamin der Lunge, wurde in einigen Staaten zur verbotenen Frucht, weil den Menschen nicht zugetraut wurde, vernünftige Sicherheitsregeln zu befolgen und beim Spaziergang Distanz zu halten.
Freiheiten wurden im Dienst der Sicherheit abgeschafft, weil sich kein demokratischer Politiker leisten kann, dass ihm das Wählervolk den Tod von Angehörigen zuschreibt, den sein energischeres Handeln hätte vermeiden können. Darin eine Wende zur Humanität schlechthin zu sehen, wäre allerdings voreilig: Es ist ein Event, das Wählerstimmen sichert, nicht mehr und nicht weniger. Die Ereignisse bestätigen nur die Schwäche der Demokratie, wenn es darum geht, einen richtigen, aber unbeliebten Kurs zu steuern.
In der Umweltpolitik ist das schon sehr lange nicht zu übersehen. Das Leben von Menschen zu gefährden, störte die Entscheider noch nie, solange der Tod als Opfer einer unvermeidlichen Verteidigung der eigenen Nation gerechtfertigt werden konnte oder aber erst nach einigen Wahlperioden zuschlagen würde. Wer Atomkraftwerke bauen lässt, ist mindestens so gefährlich wie der Leugner von Corona-Gefahren. Schon Karl Marx hat erkannt, dass »Nach uns die Sintflut« das durchgängige Motto des Kapitals ist, nicht das eines vom aufstrebenden Bürgertum gefährdeten Feudalherrn.
Die Corona-Gefahr ist zum Tagesgeschäft geworden, sie ist aktuell. Wer denkt, der Shutdown und die ihm folgende Wirtschaftskrise entferne uns garantiert von der Macht des Kapitals, hat seinen Marx nicht studiert, denn Krisen und radikale Umbauten sind ganz und gar das Geschäft des Kapitalismus. Schon zaubern sich lohnende Perspektiven in die ökonomische Wüstenei. Schon die Tests sind ein gutes Geschäft, das die Aktien auf Kurs hält. Eine Impfung brächte den Profit des Jahrhunderts. Wer aber wird durchsetzen, dass die gegenwärtige Wachstumskrise durch das Einlenken auf den von der Klimakrise geforderten Kurs verarbeitet wird und nicht durch schnelleren, größeren Raubbau, wie es die bisherige Dynamik des Kapitals erfordert?
Der Basler Psychiater Daniel Sollberger kann sich drei Ausgänge vorstellen: 4
Erstens die eilfertige Wiederherstellung des früheren Zustandes der instabilen Normalität des Konsumismus, zweitens eine passive Resignation, in der sich die Menschen an charismatische Führer anlehnen, oder drittens Einsicht in die grundlegende Endlichkeit des Lebens, die Entschleunigung und Solidarität mit sich bringt, verbunden mit einer neuen Identität als Erdenbürger, die ein gemeinsames Dach haben und alles tun müssen, dieses zu stützen.
Anmerkungen
1 Steven Taylor: Die Pandemie als psychologische Herausforderung. Göttingen 2020, S. 50.
2 Olivier Del Fabbro: »Gebt mir einen Virus und ich werde die Welt aus den Angeln heben – ein philosophischer Kommentar«, in Charles Bonoy (Hrsg.): COVID-19. Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche. Stuttgart 2020, S. 15–20.
3 Peter Laudenbach: »Man schneidet an der Seele unseres Schaffens herum«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.04.2020.
4 Daniel Sollberger: »Endlichkeit und Entschleunigung. Wie wird die Covid-19-Pandemie unsere Gesellschaft verändern?«, in: Charles Bonoy (Hrsg.): COVID-19. Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche. Stuttgart 2020, S. 122 ff.
Ebenfalls interessant im Hinblick auf das gesamte Themengebiet: Jonathan D. Quick: The End of Epidemics. The Looming Threat to Humanity and How to Stop It. New York 2018.
Armin Nassehi
Modi des (Über-)Lebens
Passen wir überhaupt in diese Welt?
Um den gesellschaftlichen Grundkonflikt der Moderne zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Kritik der Moderne im Moment ihres Anfangs. In Deutschland wäre es vor allem die frühe Romantik, in Frankreich die Kritik an der Revolution etwa des Gegenaufklärers Joseph de Maistre. Die Grundmotive der Frühromantik kann man als eine Kritik an den Entzweiungen der Moderne paraphrasieren. Philosophisch, ästhetisch, religiös und im Naturverständnis kritisierte diese Bewegung um 1800 den Verlust von Einheit und suchte nach der Versöhnung des Entzweiten. Vor allem in Jena hat sich um 1800 um die Schlegel-Brüder, um Ludwig Tieck, Friedrich Wilhelm Schelling und Novalis eine Bewegung etabliert, die gegen die Differenzierungsprozesse der Moderne deren inneren Zusammenhang setzt, die Natur und Geist nicht als Gegensatz betrachtet, die eine Wiederbelebung des Religiösen gegen die Säkularisierung des Denkens setzt. All das ist nicht besonders tiefenscharf formuliert, aber es ist eines der wirkmächtigsten Motive der Modernitätskritik überhaupt gewesen: den Zusammenhang von Identität und Differenz zu denken, die Trennungen und Differenzierungen der Moderne auszuhalten, unterschiedliche Kontexte zu erleben, mit Perspektivendifferenz zu leben. Die frühromantische Grundidee ist daher nicht einfach eine rückwärtsgewandte Ideologie, sondern sie ist bereits eine Reaktion auf jene Modernisierungserfahrungen, in denen sich die Wissenschaften versachlichen und rationalisieren, der Staat zum Anstaltsstaat wird und sich die Frage nach der Vernunft von der Religion entfernt. Es ist der Versuch, die Welt als Einheit beschreibbar zu machen und den Ursprung aller Teile in einem aufheben zu wollen – und darin ist sie auf eine erstaunliche Art und Weise modern, was immer man darunter genau verstehen will.
Es genügt zunächst diese unscharfe Charakterisierung, um das Bezugsproblem solcher Kritik zu verstehen: Es ist eine Reaktion darauf, dass diese moderne Welt mit ihren Inkonsistenzen und Diskontinuitäten offensichtlich die vormalige, wohlgemerkt: angebliche, ursprüngliche Passung von Welt und Mensch, von Individuum und Gesellschaft, von Einzelnem und Gemeinsamem verloren habe. Ob es jemals eine solche Entsprechung gegeben hat, spielt bei dieser Diagnose keine Rolle – als Projektion hat es sie ohne Zweifel gegeben, im Rekurs auf einen Volksgedanken, auf die Einheit spendende Idee einer beseelten Natur, als Hoffen auf die Monarchie als einer Einheit spendenden Verbindung des Menschen mit einem Fatum in der Figur des Königs etwa bei Novalis, nicht zuletzt als Rechtfertigung einer ständischen Ordnung. Letzteres ist vielleicht die radikalste Kritik der Moderne: der Versuch, die Gesellschaft als Assoziation von Freien und Gleichen wenigstens zu denken gegen den Gedanken, dass dann diese Freien und Gleichen ihren je eigenen Platz verlieren.1
In Frankreich setzt der Gegenaufklärer de Maistre mit seiner Kritik an Jean-Jacques Rousseaus Idee des Gesellschaftsvertrages an. Für ihn setzt die Voraussetzung potenzieller Vertragspartner, die dem Gesellschaftsvertrag zustimmen sollen, bereits jenes Gemeinsame voraus, das sich angeblich durch den Vertrag konstituieren solle. Er wehrt sich gegen die Forderung, die Gesellschaft beziehungsweise der Staat könnten Ergebnis einer Wahl, eines Willens sein, statt ihn tiefer