Selbstkritik der Moderne
Es ist hier nicht der Ort, die Differenz dieser beiden Denkungsarten angemessen ideengeschichtlich zu rekonstruieren. Vielmehr ist das Motiv bemerkenswert, dass die Kritik der Moderne bereits in statu nascendi ein Motiv enthält, das die Grundkonflikte der westlichen Moderne seitdem ausmacht. Dieser Grundkonflikt ist der Konflikt um die Frage des Ortes, an dem die Einzelnen sich befinden. Wie findet der einzelne Mensch seinen Platz in einer Welt, deren Dynamik ganz offensichtlich solche Plätze nicht mehr einfach voraussetzen kann? Die Moderne scheint tatsächlich mit ihren entfesselten Prozessen, ihren akzelerativen Momenten und der Dezentrierung von Ordnungsbildung zumindest das Erleben von Ordnung schwieriger zu machen. Moderne meint hier keinen Fortschrittsmythos, auch keinen plötzlichen Epochenbruch, wie er in den gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen dominiert, sondern eher das Ergebnis einer Entwicklung, die auf Komplexitätssteigerungen der Gesellschaft reagiert. Diese sind unstrittig und haben etwas mit der Verlängerung von Interdependenzketten zu tun, mit technologischem Wandel und wissenschaftlichem Fortschritt, nicht zuletzt mit der Verselbständigung funktionaler Logiken und ihres Eigensinns – nicht im Sinne eines allgemeinen Fortschritts, wie klassische Modernisierungstheorien und ihre politischen Instrumentalisierungen suggerierten, aber schon im Hinblick auf die Gesellschaftsstruktur. Der sinnfälligste Ausdruck solcher Veränderungen ist schon die quantitative Steigerung von fast allem.
Der britische Informatiker Stephen Emmott hat dies in seinem Buch Zehn Milliarden an Diagrammen festgemacht. Das paradigmatische Diagramm ist das der Bevölkerungsentwicklung – auf der x-Achse die Zeit, auf der y-Achse die Weltbevölkerung. Erst auf den letzten beiden Zentimetern der x-Achse schnellt die Kurve von circa 0,5 Milliarden Menschen auf erwartete zehn Milliarden zum Ende dieses Jahrhunderts hoch. Der exponentielle Ausschlag beginnt vor 200 bis 300 Jahren. Das Buch enthält viele weitere Diagramme – über die Entwicklung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre, über den globalen Temperaturanstieg, den Verlust von Regenwäldern, Wasserverbrauch, Straßenverkehr, Energieparameter usw.3 Das ästhetisch Frappierende: Alle Diagramme sehen fast gleich aus. Die wachstumskritische Botschaft des Buches ist klar – aber auch positiv besetzte Parameter würden in ähnlichen Kurven abgebildet werden: Entscheidungsmöglichkeiten, Literalität, Krankenversorgung, Lebenserwartung, politische Partizipation, Versorgung mit Gütern, Überlebensrate bei Geburten, Gleichstellung von Frauen, Versorgung der Weltbevölkerung, wissenschaftliches Wissen usw.4
All dies jedenfalls ist nicht nur ein Skaleneffekt, nicht einfach eine Multiplikation von Bestehendem, sondern tatsächlich ein Hinweis auf eine qualitative Veränderung, die etwas mit der Komplexität der Gesellschaft zu tun hat. Die entscheidenden Veränderungen sind Optionssteigerungen auf ökonomischen, wissenschaftlichen, technischen, medizinischen, planerischen und politischen Gebieten.5 Die Kritiker der frühen Moderne, wie ich sie gerade paraphrasiert habe, treffen auf jeden Fall einen Punkt in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, der auf so etwas wie den Verlust von Eindeutigkeit, den Verlust von Einheit, den Verlust von primordialen Ordnungen abstellt – selbst wenn das Primordiale nur deswegen so erschien, weil die Hierarchie der Entscheidungswege und das Fehlen von Verbreitungsmedien so etwas wie kommunikative Entfesselung über kleine Oberschichten hinaus völlig unmöglich gemacht hat.
Das Überleben des Menschen
Die heutige Selbstbeschreibung der Gesellschaft kulminiert mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht mehr so sehr in der Frage des Überlebens primordialer Ordnungen, sondern in der Frage nach den Überlebensbedingungen der Menschheit – mit der Atombombe und im Kalten Krieg im Hinblick auf die Möglichkeit der militärischen Zerstörung aller menschlichen Lebensgrundlagen, heute im Hinblick auf den Klimawandel als Kulminationspunkt ökologischer Gefährdungen. Beide Gefahren sind reale Gefahren – aber auch auf einem Abstraktionsniveau, das nicht wirklich in die konkreten Konfliktlinien der Gesellschaft durchschlägt, selbst wenn sowohl die damalige Friedensbewegung als auch die heutige Klimabewegung zu den sichtbarsten Formen katastrophischer Proteste gerannen. Genau besehen aber gruppieren sich die Grundkonflikte der Gesellschaft wenigstens im industrialisierten Westen der Weltgesellschaft um die Frage, mit der ich diese Überlegungen eingeführt habe: mit der Frage nach dem Platz, den der Einzelne in solchen Gesellschaften hat oder beanspruchen kann. Es geht hier weniger um die Überlebensbedingungen der Menschheit als um das Überleben des Menschen als konkretem Exemplar.
Das ist kein modernes Phänomen, sondern eines der Bezugsprobleme gesellschaftlicher Ordnungsbildung überhaupt. Alles Gesellschaftliche muss irgendwie dafür sorgen, menschliches Leben an sich binden zu können – das ist ein universales Bezugsproblem, für das es historisch sehr unterschiedliche Lösungen gab, die allesamt mit der Struktur der Gesellschaft selbst zu tun hatten. In frühen stammesgesellschaftlichen Formen wurde das Problem etwa durch eine spezifische Form der Anwesenheit und Reziprozität gelöst. Menschen lebten in kleinen Gruppen, und Tätigkeiten waren so aufeinander bezogen, dass sie die Kontinuität ihrer Tätigkeiten durch reziproke Formen der Arbeitsteilung gelöst haben. In einer solchen Gesellschaft gab es zwar auch ausdifferenzierte Rollen und erste Hierarchieebenen, aber die Kontinuität eines Lebensverlaufs folgte fast vollständig der sozialen Position der einzelnen Individuen. Hier hatte jeder Mensch einen Platz, zum Teil gebrochen durch Alters- und Geschlechtsdifferenzierung ähnlicher Segmente. Kontinuität war leicht herzustellen, weil die Gesellschaft selbst kaum Diskontinuität kannte. Diskontinuität kam nicht von innen, sondern von außen – als Natur, als Angriff von Feinden oder als Veränderung ökologischer Bedingungen. Das Überleben der Gruppe und das Überleben der Einzelnen war gewissermaßen vollständig parallelisiert – und die Kontrollverhältnisse waren wenig komplex, schon weil eine solche Gesellschaftsstruktur für die Eigenentscheidung von Individuen so gut wie keine Verwendung hatte.
Diese Art von Lösung änderte sich spätestens dort, wo Arbeitsteilung stieg und Komplexität schon dadurch wuchs, dass sich Herrschaftsräume ausweiteten, Hierarchien zunahmen und symbolisch vermittelt werden mussten sowie Gesellschaften schlicht größer wurden. Solchen Gesellschaften gelang es, sich selbst intern zu integrieren, indem sie die Menschen selbst gar nicht als Menschen, sondern vollkommen eindeutig mit ihrer sozialen Position verschmelzen ließen. In historisch grober Ungenauigkeit gesprochen, ist das gewissermaßen der Ausgangspunkt jener ständischen Ordnungen, die Menschen eineindeutige Orte zugewiesen haben und nicht einmal auf die Idee kommen konnten, das »Ungleichheit« zu nennen, weil der Horizont von Gleichheit gar nicht erst auftauchen konnte. Ständische Ordnungen sind Ordnungen, die das erwähnte Bezugsproblem dadurch lösen, dass jede und jeder eindeutig weiß, wo er oder sie hingehört – weitgehend alternativlos. An den Körpern ihrer Existenz hing zugleich der soziale Ort – und die Lebensweise war bestimmt durch die Produktions- und Herrschaftsbedingungen, in denen sich die Individuen bewegten.
Der Nachteil dieser Lösung bestand darin, dass solche Modelle der eindeutigen Zugehörigkeit den Ort der konkreten Person in einem einseitigen Kontrollverhältnis bearbeiten konnten. Der Vorteil dieser Lösung bestand gleichzeitig darin, dass die Kontrollverhältnisse eindeutig waren. Nimmt man de Maistres Kritik an der Revolution ernst, dann ist es eine Kritik daran, dass mit der Aufgabe dieses Ordnungsmodells exakt