Dass solche Denkungsarten an der Schwelle zur Moderne entstanden, ist eine Reaktion auf ihr Scheitern. Die interne Differenziertheit und Komplexität der Gesellschaft schließt solche eindeutigen Kontrollverhältnisse geradezu aus – nur um neue Kontrollverhältnisse zu etablieren, die aber nicht mehr von jener Latenz und jener primordialen Kraft leben konnten wie zuvor. Man kann es an den gesellschaftlichen Veränderungsstichworten des 19. Jahrhunderts festmachen: der Nationalstaat als komplexe Verwaltungseinheit mit starken bürokratischen Planungshorizonten; die Entstehung des Betriebskapitalismus als völlig neue Form der Organisation von Arbeitsteilung; die unter anderem daraus folgende Urbanisierung der Zentren; die Entstehung von Familienformen mit stabilen Geschlechterrollen; die Etablierung von Bildungskarrieren; die Gestaltung von sozialer Ungleichheit als staatlicher Aufgabe und die Entstehung der »sozialen Frage«; das rechtliche Gleichheitsversprechen bei gleichzeitiger ungleicher Verteilung von Lebensmöglichkeiten sowie die Verwissenschaftlichung des Wissens und so weiter.
Wahrscheinlich waren die Lebensverhältnisse in früheren Mangelgesellschaften für den Großteil der Bevölkerung erheblich schwieriger, aber das Verhältnis von individuellem Überleben und gesellschaftlicher Dynamik war sicher einfacher, zumindest einfacher zu verstehen und einfacher in dem Sinne, dass es wenig Alternativen der je individuellen Lebensgestaltung gab. Eine moderne, hoch arbeitsteilige, funktional differenzierte Gesellschaft musste diese Form der Lebensgestaltung je neu erfinden – und deshalb wurde auch die Schaffung konkreter Orte für das Leben der Menschen zum entscheidenden Gestaltungsthema gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Um eine unvollständige Liste solcher Gestaltungsfragen zu formulieren:
•Die Verbetrieblichung des Kapitalismus und die Organisation von Arbeit etwa mussten das Problem lösen, dass der kleine Beitrag des Einzelnen ökonomisch so viel Mittel abwerfen konnte, dass Personen in der Lage sind, davon zu leben.
•Diese Versorgungsleistung musste sich einerseits auf einem Markt selbst regulieren, andererseits stark genug sein, um Lebensverhältnisse zu etablieren, die Massenloyalität ermöglichten.
•Massenloyalität, auch vor dem Resonanzraum einer entstehenden Öffentlichkeit, ist in einer Demokratie nötig, die langsam erst allen Männern, viel später auch Frauen das Wahlrecht übertrug und das Risiko einging, Herrschaft vom Willen des Volkes abhängig zu machen.
•Das Bildungssystem musste zweierlei leisten – möglichst gute Bildung für die unterschiedlichen Klassen und Schichten, aber eben nicht zu viel davon, um die Schichtung der Gesellschaft durch ungleiche Zuweisung von Positionen stabilisieren zu können.
•Die Erfindung von Kindheit und Jugend als Bildungs- und Vorbereitungszeit versorgt das gesellschaftliche Personal mit ausreichend Komplexität für die Lebensführung.
•Die Versorgung der Gesellschaft mit Massengütern für Massen, die diese Güter nicht selbst herstellen.
•Eine Sozial- und Wirtschaftsplanung.
•Die Organisation von Daseinsvorsorge und Finanzierung von Ausfallzeiten, etwa durch Unterstützungs- und Versicherungssysteme.
•Was oft vergessen wird: Die Organisation der Daseinsvorsorge durch Sozialpolitik, Umverteilung und Formen der Anspruchsberechtigung konzentriert sich auf die Erreichbarkeit eines nationalen Rahmens, der erst Gestaltung und Planung, Kontrolle und Limitierung möglich macht.
•Das Erfolgsmodell der »Nation« als dem entscheidenden Schema der räumlichen Begrenzung von Einflusssphären nutzt zwar kulturelle Chiffren von Überlieferungen, Codierungen und Traditionen, hat aber vor allem den Sinn, Gestaltungsräume voneinander abzugrenzen und »Gesellschaft« als Raum der Limitation von Zugehörigkeit wie auch der Etablierung von Konflikten als Öffentlichkeit zu inszenieren.
•Die Erfindung des Inländers und des Fremden als exklusive Kategorien reguliert die Zugehörigkeit zum Volkskörper.
•Der Staatsbürgerstatus oder Derivate davon, die Aufenthaltsrecht und damit Lebensplanung ermöglichen, sind gewissermaßen das direkte Korrelat der Notwendigkeit, dass das Leben nicht einfach stattfindet, sondern sowohl aktiv geführt als auch passiv ermöglicht und staatlich kontrolliert werden muss.
Wie bereits erwähnt: Diese Liste ist nicht vollständig und zugegebenermaßen allzu technokratisch beschrieben. Aber sie macht eines deutlich: Sie reagiert auf eine Gesellschaft, die die Orte definierte, an denen sich Personen aufgehalten haben und die die Kontinuität ihres Lebensverlaufs selbst herstellen mussten – man nannte das »Lebensführung« –, ohne dass dies in der Gesellschaftsstruktur selbst verankert war. Das Entscheidende ist, dass gesellschaftliche Modernität bedeutet, dass die unterschiedlichen Elemente, die so etwas wie Orte der Lebensführung erzeugen, vergleichsweise unkoordiniert waren und eigens hergestellt werden mussten. Die Komplexität der modernen Gesellschaft war und ist darauf angewiesen, nicht zu viel festzulegen. Die Leistungsfähigkeit gerade der industriegesellschaftlichen westlichen Moderne bestand darin, dass Differenzierungsprozesse und die Unterbrechung von strikten Kontrollverhältnissen erst jene Kreativität und Flexibilität ermöglicht haben, die die Basis für die Selbstanpassung der Gesellschaft an ihre interne Dynamik ermöglicht hat.
Kontrollverhältnisse
Es geht um Kontrollverhältnisse. Gesellschaften unseres Typs verzichten auf starke Kontrollverhältnisse – sie reagieren auf Komplexität etwa mit der Erfindung des Individuums, das sich in den unterschiedlichen Ansprüchen der Gesellschaft selbst zurechtfinden darf und muss. Die Freiheitssemantik dockt an beide Erfahrungen an: Es ist im bürgerlichen Sinne frei, denken zu dürfen, was es will, Entscheidungen selbst zu treffen und Verantwortung für das Leben zu übernehmen; in Marx’scher Diktion ist es anders als der Sklave frei, seine Arbeitskraft auf den Markt zu tragen, aber eben auch frei von der Verfügung über die Produktionsmittel. Darin wird deutlich, wie die Gesellschaft gerade durch Verzicht auf eindeutige Kontrollverhältnisse das eigene Komplexitätsproblem löst – sie kann den freien Arbeiter/das freie Individuum ebenso loswerden, wie sich bisweilen von der freien Meinung ihres Personals unabhängig machen. Sie kann genügend Komplexität aufbauen, weil Freiheit Variation und Flexibilität aufbaut und ermöglicht, sie muss deshalb keine zu kompakten Lebensverhältnisse schaffen, in denen alles vorstrukturiert ist. Sie verzichtet damit auf quasi natürliche Ordnungen, muss aber mit der Volatilität ihrer eigenen Dynamik umgehen.
Das Individuum ist in diesem Sinne nicht unteilbar, sondern letztlich, wieder mit Marx gesprochen, ein »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«. Das Individuum steht nicht der Gesellschaft gegenüber, sondern wird durch seine Individualität von der Gesellschaft erzeugt – und zwar in differenzierter Vielfalt: Das Rechtssystem erzeugt ein zurechnungsfähiges Rechtssubjekt, Arbeitsmärkte erzeugen Karrierewege und damit individuelle Berufsbiografien, Produktmärkte erzeugen den individuell entscheidenden Konsumenten, die politische Öffentlichkeit verlangt politische Bekenntnisse und Wahlstimmen von jedem und jeder Einzelnen, der Staat macht aus Menschen Bürger, das Bildungssystem erzeugt Persönlichkeiten und einen Habitus der Langsicht im Hinblick auf spätere Tätigkeiten, die Medizin erzeugt eine Orientierung an der eigenen Körper-/Krankheitsgeschichte, die Massenmedien versorgen die Einzelnen mit Bildern und Chiffren, wie man sich als Individuum beschreiben und darstellen kann, und selbst die Religion verlangt in unseren Zeiten eine bewusste individuelle Entscheidung für Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit. Selbst die Erlösungsfähigkeit wird individualisiert.
Der Zusammenhang dieser unterschiedlichen Individualisierungsformen aber wird nicht durch kompakte Orte hergestellt. Zwar erzeugt die Gesellschaft erhebliche soziale Ungleichheiten, Milieus und sehr unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten, aber das ist eher das Ergebnis als die Voraussetzung der gesellschaftlichen Dynamik. Das moderne Versprechen, dass jeder und jede etwas werden kann, heißt eben auch, dass nicht jeder und jede auch etwas wird. Das ist das Bezugsproblem einer Gesellschaft,