»Die haben wir, denn natürlich bleibt ihr bis zum Abendessen. Stella, ich freue mich wirklich, und vielleicht kriegen wir die Männer dazu, sich allein zu unterhalten, die Kinder sind eh miteinander beschäftigt, und ich zeige dir meine neuesten Errungenschaften.«
»Klamotten?«, wollte Stella sofort wissen.
»Bücher«, entgegnete Ricky, »du weißt doch, wie lesebesessen ich bin.«
*
Nun wohnten sie also im Sonnenwinkel.
Leonie war überglücklich und kam aus ihrem Prinzessinnenzimmer kaum noch heraus. Sie liebte es über alles, und Gerda konnte sich überhaupt nicht erinnern, wie oft Leonie ihr bereits um den Hals gefallen war und sich bedankt hatte.
Gerda wünschte sich so sehr, sie könnte sich wenigstens etwas freuen. Das war nicht der Fall.
In ihrem Schlafzimmer standen ein Bett, ein Nachttisch und eine Lampe, zum Glück gab es die Einbauschränke.
Aber das war es auch schon. Sie hätte das Zimmer gemütlicher gestalten können, aber dazu fehlte Gerda ganz einfach die Energie.
Im Wohnzimmer standen ein Sofa, zwei Sessel, ein recht hübscher Vitrinenschrank, ein Tisch, und natürlich gab es einen Fernseher und eine Musikanlage.
Leonie hatte unbedingt ein Bücherregal haben wollen, in dem die paar Bücher ziemlich verloren wirkten, die sie besaßen.
Leonie fand alles toll.
»Mami, warum hatten wir nicht schon früher die Idee und haben uns ein Haus oder wenigstens eine Wohnung mit eigenen Möbeln genommen?«, fragte sie mehr als nur einmal. »So schön wie hier haben wir noch nie gewohnt, es ist wie in …, wie in … einem Paradies, und du, meine Mami, du bist der Engel darin, denn dir haben wir es alles zu verdanken. Dass du mir dieses teure Prinzessinnenzimmer gekauft hast.«
Ehe Gerda etwas sagen konnte, erkundigte Leonie sich plötzlich: »Mami, woher haben wir so viel Geld?«
Eine derartige Frage hatte Leonie bislang noch nie gestellt, und das brachte Gerda in arge Verlegenheit. Was sollte sie jetzt sagen?
»Ich …, äh …, nun …, ich habe etwas geerbt, und zwischendurch habe ich doch immer auch gearbeitet, und unser Lebensstil war niemals aufwendig.«
Leonie fiel ihrer Mutter um den Hals.
»Ach, Mami, da bin ich aber sehr froh. Dann müssen wir uns ja auch keine Sorgen machen und können für immer hier wohnen bleiben, und wenn ich groß bin, dann sorge ich für dich.«
Gerda presste ihre Tochter an sich und versuchte, ruhig zu atmen.
Hoffentlich stellte Leonie nicht noch mehr Fragen, die in diese Richtung gingen. Sie würde bestimmt weitere Fragen stellen, und die nächsten würden vermutlich sein, warum die meisten Zimmer im Haus nicht möbliert waren.
Noch genoss sie das Neue, ihr Zimmer, das Wohnzimmer, aber was sollte sie ihr sagen?
Wenn es nach Gerda ginge, könnte alles so bleiben, wie es augenblicklich war. Alles, was sie gekauft hatten, empfand sie nicht wie ihre Tochter als ein großes Glück, sondern es war für sie eine Belastung, etwas, was sie herunterzog, was sie festhielt.
Hätte sie nicht die Verantwortung für Leonie, dann hätte es für sie immer so weitergehen können, dieses Leben auf der Durchreise, dieses Leben aus dem Koffer. Das war unverbindlich gewesen und sicher. Eine Sicherheit, die ihr jetzt verloren gegangen war. Sie konnte nur hoffen, dass es sich bald wieder ändern würde.
Sie musste sich an den Zustand gewöhnen.
Vor allem musste sie ihren Verstand gebrauchen!
Was sollte ihr denn hier passieren? Vor allem nach so vielen Jahren.
Sie würde sich so gern mit Leonie freuen, wenn sie das doch nur könnte.
Leonie knöpfte ihre Jacke zu und sagte: »Mami, ich gehe dann mal los.«
Gerda versuchte, ihre Tochter davon abzuhalten, aber da war nichts zu machen. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, hinauf zur Felsenburg zu wandern.
»Leonie, du kennst dich hier noch nicht aus, für dich ist alles fremd. Wenn du unbedingt zu dieser Ruine möchtest, dann lass mich doch mitgehen.«
Das Thema hatten sie bereits, und Gerda glaubte auch jetzt nicht, bei ihrer Tochter etwas zu erreichen. Und richtig! Leonie blitzte ihre Mutter an.
»Mami, ich bin kein kleines Mädchen mehr, und was soll mir auf dem Weg zur Felsenburg denn schon passieren? Man kann sie von hier aus sehen, verlaufen kann ich mich nicht. Und was sollen denn die Leute von mir denken, wenn sie sehen, dass ich an deiner Hand durch die Gegend laufe? Du hast es mir versprochen, dass ich hier allein Erkundungen durchführen kann, und du hast es mir versprochen, dass ich ab Montag mit dem Schulbus fahren darf.«
Gerda hatte es, fühlte sich noch immer nicht wohl dabei und versuchte, ihre Tochter davon zu überzeugen, sie wenigstens in der ersten Zeit zur Schule bringen zu dürfen.
Es war nichts zu machen.
»Mami, ich würde mich in Grund und Boden schämen, und bei den anderen Kindern wäre ich doch unten durch, und die würden mich ein Mamakind nennen. Willst du das?«
Natürlich wollte Gerda das nicht, aber sie versuchte dennoch, Leonie abzuringen, wenigstens in der ersten Woche gemeinsam mit ihr im Bus mitzufahren, wenn sie schon nicht gebracht werden wollte.
»Ich kann ja so tun, als müsste ich in Hohenborn etwas einkaufen.«
Leonie schüttelte entschieden den Kopf.
»Mami, wir sind Probe gefahren, ich kenne alle Abfahrtzeiten des Busses. Ich fahre ganz allein, und jetzt laufe ich ganz allein zur Felsenburg. Ich bin schon ganz aufgeregt.«
Sie umarmte ihre Mutter, küsste sie: »Mami, ich habe dich lieb.«
Dann verließ sie das Haus und schwenkte ganz stolz ihren Schlüssel.
»Du musst mir nicht aufmachen«, rief sie. »Bis später.«
Gerda war allein, und sie wusste, dass sie bis zu Leonies Rückkehr die Zeit in Anspannung verbringen würde, in Anspannung und Angst. Und sie ahnte, dass künftighin die Angst ihr ständiger Begleiter sein würde.
Sie ging ins Wohnzimmer, stellte sich ans Terrassenfenster und starrte hinaus in den Garten, der eigentlich hübsch angelegt war, um diese Jahreszeit allerdings ein wenig traurig aussah.
Sie presste ihren Kopf gegen das kühle Glas der Scheibe und zuckte zusammen, als sie ein Scheppern hörte. Jemand war unachtsam gegen Glas gestoßen und hatte es heruntergeworfen. Ihre Nackenhaare sträubten sich, denn das bedeutete, dass sie nicht allein im Haus war …
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