Christine stellte ihren Becher ab, drehte um und kam kurz darauf mit einem weiteren für Hendrik Siebelt zurück. »Bitte schön. Die Kanne ist nun allerdings leer.« Sie blickte ihre Kollegin lächelnd an. Denn, nein, jetzt noch neuen Kaffee aufzusetzen, während Oda Wagner hier mit ihrem Chef über den Fall sprach, das kam für sie nicht infrage.
»Danke.« Siebelt nahm den Becher entgegen. »Was gibt’s zu berichten?«
Ohne ein Wort zu sagen, sah Oda Wagner Christine herausfordernd an.
Doch sie ignorierte ihre Kollegin und fasste zusammen, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Oda Wagner malte unterdessen kleine Smileys auf ihre Schreibtischunterlage, das Werbegeschenk einer Bank.
»Jedenfalls wohnt die Tochter hier vor Ort, der Sohn auf Spiekeroog, und der war auch die letzten Tage nicht hier, wenn man Frau Beenke glauben kann. Er führt auf der Insel ein Hotel, das ›Deichblick‹«, schloss Christine. »Also werden wir gleich mal zur Tochter fahren.«
»Tut das.« Siebelt schob sich vom Schreibtisch, trank im Stehen aus und drückte Christine den leeren Becher in die Hand. »Den Bericht brauche ich spätestens heute Nachmittag. Die Presse sitzt mir bereits im Nacken, schließlich war John Beenke nicht irgendwer. Mit ein paar Fakten will ich schon aufwarten können. Dr. Krüger hat übrigens versprochen, den Obduktionsbefund später rüberzufaxen.« Er ging zur Tür, drehte sich dort aber noch einmal um. »Wie Oda gerade berichtete, als Sie so freundlich waren und mir den Kaffee holten, sprach Beenkes Sekretärin davon, dass er ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Tochter hatte. Dann kann sie uns vielleicht mehr sagen als die Ehefrau. Kitzeln Sie also alles aus der Tochter raus. Das haben Sie bestimmt in Hannover gelernt.« Er zwinkerte erst ihr und dann Oda zu.
Was sollte das denn werden? Wurde sie etwa von den beiden getestet? Blödmann, dachte Christine, als er den Raum verließ. Aus dem Augenwinkel sah sie das schmale Lächeln ihrer Kollegin. Beides Blödmänner.
Oda Wagner tippte kurz auf der Tastatur ihres PCs, griff zum Telefonhörer und wählte eine Nummer. Am anderen Ende musste jemand direkt neben dem Telefon gesessen haben, denn kaum hatte sie das Wählen beendet, sagte sie: »Moin, Frau Beenke. Oda Wagner hier, Kripo Wilhelmshaven. Meine Kollegin und ich müssten gleich mal mit Ihnen sprechen. Sind Sie zu Hause?«
Tomke Beenke schien das zu bestätigen, denn Oda Wagner sagte: »Okay, wir machen uns direkt auf den Weg. Bis gleich.« Damit legte sie auf, öffnete ein Fenster und nahm ihre abgetragene Lederjacke vom Haken. »Tja, dann woll’n wir mal … Die Luft hier drinnen ist sowieso etwas verbraucht, da tut ein wenig frische Luft gut.« Oda Wagner schlüpfte in die Jacke. »Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Sehen Sie zu, dass Sie mit der Tochter nicht so harmlos umgehen wie mit der Mutter. Sonst werde ich dazwischengehen.« Sie schnappte sich ihren Kaffeebecher und verließ den Raum. »Wir sehen uns unten.«
Christine betrachtete die beiden anderen leeren Kaffeebecher und sah ihrer Kollegin nach. Was meinten Siebelt und diese Wagner eigentlich, mit wem sie es zu tun hatten?
***
Wieder saß Oda auf dem Beifahrersitz, als sie zu Tomke Beenke fuhren, die in einem Appartement am Südstrand lebte.
»Die lütte Beenke weiß es schon«, sagte Oda unvermittelt. »Ich hab ihrer verweinten Stimme angehört, dass sie die traurige Nachricht schon erhalten hat. Bestimmt von ihrer Mutter. Ich frag mich nur, warum Tomke Beenke nicht sofort zu ihr gefahren ist.«
»Das wird sie uns bestimmt gleich erzählen«, antwortete Christine Cordes ziemlich emotionslos. »Ich müsste mal eben beim Bäcker anhalten, wenn das für Sie in Ordnung ist. Meine Brotbestände zu Hause könnten nicht mal eine Maus ernähren, und ich weiß ja nicht, wie lange wir heute arbeiten.«
Oda warf ihr einen schrägen Blick zu. »Von mir aus, aber selbst in Wilhelmshaven haben die Supermärkte bis einundzwanzig Uhr auf.«
Ihr Kommentar schreckte Christine Cordes nicht ab, zum Glück dauerte der Brotkauf jedoch nicht lang. Als sie über den Grodendamm fuhren, blickte Oda nach links über den Großen Hafen. Vereinzelte Segelboote lagen noch an der Marina, sicher hartgesottene Segler, die auch im Winter nicht auf ihren Sport verzichten wollten.
Ihrer Kollegin mochten die gleichen Gedanken durch den Kopf gegangen sein, sie sagte: »Es ist schon beeindruckend, wie viel Wasser Wilhelmshaven hat.«
»Na ja«, entgegnete Oda. »Das mag daran liegen, dass die Stadt am Jadebusen liegt.«
»Natürlich, aber für mich als Binnenländerin ist es jedes Mal wieder faszinierend. So nah hatten wir den Strand in Hannover nicht. Bis zum Maschsee waren wir immer eine knappe Dreiviertelstunde unterwegs.«
»Tja«, gab Oda lediglich zurück. Was sollte sie auch sonst dazu sagen? Es interessierte sie ehrlich gesagt nicht wirklich, wo und wie die Neue früher gewohnt hatte.
Einen Parkplatz in einer der Parkbuchten entlang der Straße zu ergattern, gestaltete sich als gar nicht so einfach, und so mussten sie ein gutes Stück laufen, bis sie den Apartmentkomplex aus roten Backsteinen und viel Glas erreichten, in dem Tomke Beenke lebte.
»Nicht schlecht«, meinte Christine Cordes, und Oda vermutete: »Da werden die Eltern wohl ordentlich zur Miete zubuttern müssen. Die Mutter hat doch beiläufig erwähnt, dass ihre Tochter noch nicht lange beim Wilhelmshavener Kurier arbeitet. Wohnungen in dieser Lage sind nicht gerade günstig.«
»Ich weiß«, bestätigte Christine Cordes. »Wir haben uns hier auch mal was angeguckt, als mein Mann nach Wilhelmshaven zog. Aber daraus ist nichts geworden.«
Sie stiegen die Stufen zum Eingang hoch, Christine Cordes suchte den Namen Beenke in der langen Reihe der Klingelschilder und drückte schließlich den Knopf. Fast augenblicklich wurde der Summer gedrückt. Als sie im vierten Stock aus dem Aufzug traten, war die gegenüberliegende Tür geöffnet. Die junge Frau in der Wohnungstür konnte Oda nicht nur am verweinten Gesicht als Tochter des Opfers erkennen, sie war eindeutig die Frau von dem Foto auf Beenkes Schreibtisch.
»Mein Beileid«, sagten sie und Christine Cordes gleichzeitig.
»Danke.« Tomke Beenke zog die Nase hoch und wischte sich mit einem Stofftaschentuch über die Augen. »Kommen Sie doch herein.«
Durch einen kurzen Flur gelangten sie ins Wohnzimmer, dessen Ausblick Oda für einen Moment die Sprache verschlug. Natürlich kannte sie den Blick auf den Jadebusen. Nur nicht aus dieser Höhe. Das war schon beeindruckend. Unterhalb des Fensters robbte sich das Meer mit schaumbewehrten Wellenkronen ans Ufer heran, auf der anderen Seite des Jadebusens waren Dangast und die Windkrafträder in Butjadingen durch einen leichten Seenebelschleier zu erkennen.
»Schön haben Sie es hier«, sagte Christine Cordes.
»Finden Sie?« Tomke hörte einen Moment auf zu schniefen. »Ja, ist schon nicht schlecht, hier zu leben. Gibt Schlimmeres. Mein Vater hat die Wohnung gekauft. Ich darf hier wohnen.« Wieder zog sie die Nase hoch und ließ sich auf einen der beiden roten Sessel fallen. Oda blickte noch einen Moment aufs bewegte Wasser, während Christine Cordes auf der mit einem roten Laken verhüllten Couch Platz nahm.
»Ich kann gar nicht fassen, dass er tot ist«, flüsterte Tomke. Oda setzte sich in den anderen Sessel.
»Das glaube ich.« Christine Cordes sprach sanft. Wie zu einem Kind.
Oda vermutete, dass Tomke nicht allein wegen des Todes ihres Vaters Schwarz trug. Sie war das genaue Gegenstück zu ihrer weiß durchscheinenden Mutter. Die junge Frau war deutlich größer. Kräftiger. Sie ähnelte mehr ihrem Vater, obwohl ihr Haar blauschwarz gefärbt war. Zur verwaschenen schwarzen Jeans trug sie ein T-Shirt mit der Aufschrift »Saltatio Mortis« über einem ebenfalls schwarzen Sweatshirt. Saltatio Mortis. Hieß das nicht Totentanz? Was für ein irrwitziger Zufall, dass sie gerade heute dieses Shirt trug.
»Er fehlt mir jetzt schon.« Tränen liefen ungehindert Tomkes Wangen hinab. Ein Weinkrampf ergriff sie. Die Neue ließ ihr Zeit. Fehlte nur, dass sie Beenkes Tochter die Hand streichelte. Oda sah sich im Raum um. Ihr Blick