»Wunderbar«, brachte sich Oda wieder ins Spiel. Sie ignorierte den missmutigen Blick ihrer Kollegin. »Da haben Sie sicher mehr Zeit mit Ihrem Chef verbracht als seine Frau. Sie werden ihn fast genauso gut, wenn nicht sogar noch besser gekannt haben, stimmt’s?«
»Na ja, zwischen Dr. Beenke und mir war das natürlich rein beruflich.« Ina Nienhauer blickte ernst auf. »Also fachlich kannte ich ihn wirklich gut. Seine Frau wohl nicht, die hat sich ja nie für Johns Arbeit interessiert.«
»Nicht?« Pure Neugier floss aus Odas Stimme, ohne dass sie es verhindern konnte. Nicht dass sie sich selbst als Kunstkennerin bezeichnen würde, aber Interesse an der Arbeit des Ehemannes sollte eine Frau schon haben, fand sie.
»Nein. Frau Beenke war immer nur zu den Ausstellungseröffnungen hier, wenn sie sich im Glanz ihres Mannes sonnen konnte. Aber so zwischendurch … Das konnte man in all den Jahren an einer Hand abzählen. Tomke, Dr. Beenkes Tochter, war oft hier. Die hat sich sehr für die Arbeit ihres Vaters interessiert.«
»Kommen wir noch mal auf den Kuratoriumsvorsitzenden Diersen zurück«, sagte Christine Cordes. »Sie sagten, er war nach Ihnen noch hier.«
»Dr. Beenke hat zumindest gesagt, dass er noch auf ihn wartet.«
»Inwieweit, meinten Sie, war das Verhältnis zwischen den beiden angespannt?«
»Also, das ist mir jetzt ein bisschen unangenehm.« Ina Nienhauer zierte sich. »Schließlich will ich ja keinen anschwärzen.«
»Tun Sie auch gar nicht. Sie geben uns lediglich die Informationen, die wir für unsere Arbeit brauchen.«
Prompt begann Ina Nienhauer zu erzählen. »Ach, wissen Sie, es kam fast jedes Mal zum Streit, wenn Diersen hier war. Der wollte sich immer in Dr. Beenkes Aufgaben einmischen. Aber der hat sich das nicht gefallen lassen. Sie glauben gar nicht, wie Herr Diersen sich hier aufgespielt hat. Dabei ist der noch nicht lange im Amt. Hat getan, als sei er Dr. Beenkes Chef. Wegen jeder kleinen Budgetüberschreitung hat er Dr. Beenke angepflaumt. Manchmal hat er sogar gedroht, er werde dafür sorgen, dass Dr. Beenke seinen Job loswird.« Ina Nienhauer schnaubte laut in das Taschentuch, dann steckte sie es in den Bund ihrer Jeans. Igitt, dachte Oda.
»Hat Ihr Chef sich denn von diesen Drohungen einschüchtern lassen?«
»Nein!« Entrüstet lehnte Ina Nienhauer diesen Gedanken ab. »Von so einem wie Diersen doch nicht. Im Gegenteil, er hat den Spieß umgedreht und seinerseits mit Kündigung gedroht.« Sie lächelte. »Da hätte Diersen aber ganz schön alt ausgesehen vor dem Rest des Kuratoriums. Schließlich lief das Museum nur dank Dr. Beenkes Engagement so gut.«
»Womit hat Herr Diersen ihm denn gedroht? Ich meine, so einfach ist es ja nicht, einen fest angestellten Museumsdirektor während der Vertragslaufzeit zu entlassen«, sagte Oda.
»Ach, Herr Diersen ist ziemlich hinterhältig vorgegangen. Er hat, gleich nachdem Dr. Beenke ihm im Gespräch gesagt hat, er würde dann eher von alleine gehen, eine knappe Meldung an den Wilhelmshavener Kurier rausgegeben, dass sich Änderungen in der Leitung des Museums abzeichnen würden. Und dass Dr. Beenke sich beruflich anderweitig orientieren möchte. Sie glauben gar nicht, was danach hier los war. Sämtliche Kuratoriumsmitglieder riefen an, um Dr. Beenke zum Bleiben zu bewegen. Da hatte Diersen sich ins eigene Fleisch geschnitten. Danach war er noch unfreundlicher.«
»Das ist ja interessant. Danke erst einmal. Sie haben uns ein gutes Stück vorangebracht.« Oda warf einen Blick zu Christine Cordes, die widerwillig nickte.
Beim Aufstehen ließ Oda unbemerkt ihr Schüsselbund auf den Boden sinken.
»Wenn Ihnen noch etwas einfällt: Sie wissen ja, wo Sie uns erreichen«, sagte Christine Cordes im Hinausgehen und steckte Ina Nienhauer ihre Visitenkarte zu. Klar, die muss das letzte Wort haben, dachte Oda verstimmt.
Schweigend liefen sie nebeneinander den Flur entlang. Als sie die Treppen erreichten, blieb Oda stehen. »Schiete, ich hab was vergessen. Gehen Sie doch schon vor. Ich komme sofort nach«, bat sie, drehte sich um und lief zurück.
An der geöffneten Tür zu Beenkes Büro blieb sie zufrieden stehen. Hatte sie es sich doch gedacht. Ina Nienhauer beugte sich hinter dem gläsernen Schreibtisch über eine geöffnete Schublade des linken Rollcontainers. Offenbar suchte sie etwas. Sie blickte überrascht auf und errötete, als Oda eintrat.
»Ich hab irgendwo mein Schlüsselbund verloren, es muss mir wohl aus der Tasche gerutscht sein.« Oda ging durch die Verbindungstür ins Sekretariat. Kurz darauf kam sie gut gelaunt mit dem Schlüsselbund in der Hand zurück.
Ina Nienhauer nickte nur, immer noch rot im Gesicht.
Volltreffer, dachte Oda und lief fröhlich wieder hinaus. Sie hatte schon die ganze Zeit gespürt, dass die Sekretärin nicht alles gesagt hatte. Jetzt war sie sich sicher. Aus der Nienhauer war noch mehr rauszuholen.
***
»Ist schon jemand zu Dr. Beenkes Privatadresse gefahren?«, fragte Christine, als sie ins Auto stiegen.
Oda Wagner schüttelte den Kopf. »Nee. Das mache ich selbst, wenn es irgend möglich ist. Man kann an der Reaktion der Hinterbliebenen oft eine Menge erkennen, wenn man die Nachricht vom Tod eines nahestehenden Verwandten überbringt.«
»Das stimmt. Wollen wir danach zu diesem Herrn Diersen fahren?«, fragte Christine.
»Erst mal abwarten, was bei dem Gespräch mit der Witwe herauskommt.«
Nun gut. Ihre Kollegin war nicht gerade gesprächig. Schweigen konnte Christine allerdings auch. Sie würden sich schon aneinander gewöhnen. Vielleicht brauchte Oda Wagner einfach Zeit – bislang war sie die einzige Frau der Abteilung gewesen. Sie bogen in die Kantstraße ein. Die schmale Straße war zugeparkt, also stellte Christine den Wagen um die Ecke ab. Drei Jungen radelten laut lachend an ihnen vorbei. Keiner von ihnen trug einen Helm, was Christine verwunderte. Wenn das ihre Kinder wären … Sie wollte sich gerade an Oda Wagner wenden, um eine entsprechende Bemerkung zu machen, als sie sah, wie die den Kindern zuwinkte.
»Ist einer davon Ihrer?«, fragte Christine.
»Nö. Sind Nachbarskinder.« Oda Wagner öffnete die Wagentür und stieg aus.
Dann eben nicht … Christine schnappte sich ihre Tasche, verriegelte den Wagen und lief hinter ihrer neuen Kollegin her. Der Bürgersteig war gegen die Glätte mit grobkörnigem Granulat bestreut. Christine hoffte, dass keines der kleinen Steinchen den Weg in einen ihrer Schuhe fand. Das passierte ihr im Winter ständig, führte zu Laufmaschen in den Strumpfhosen und war ziemlich ärgerlich. Vor allem, wenn man mit jemandem wie Oda Wagner unterwegs war. Sie konnte sich deren spöttisches Grinsen jetzt schon vorstellen.
»Nicht schlecht«, sagte Christine, als sie das Grundstück von Dr. Beenke betraten. Sie liefen auf eine rot geklinkerte Villa mit weißem Putzvorbau zu. Der Weg war mit grauem Granit gepflastert, der Garten schien einem Fachmann anvertraut worden zu sein. Es sei denn, die Hausfrau hatte ein Faible für Gartenarbeit und ein grünes Händchen. »Sie wohnen auch hier im Viertel?«
»Das schon, aber nicht in so ’nem noblen Schuppen. Ich wohne zur Miete. In der Holtermannstraße. Da hab ich aber auch eine sehr schöne Wohnung.« Oda Wagner drückte den Klingelknopf. »Dann wollen wir mal.«
Es dauerte ein Weilchen, bis die Tür geöffnet wurde. Die Frau, die ihnen gegenüberstand, machte nicht den Eindruck, eine begeisterte Gärtnerin zu sein. Das fast feenhafte Wesen wirkte nahezu durchscheinend in seinem weißen, bodenlangen Kaftan. Christine schätzte die Frau auf Ende fünfzig, aber das mochte täuschen. Hätte das volle, auf die Schultern fallende Haar eine andere Farbe als das silbrige Grau gehabt, würde Frau Beenke sicher jünger aussehen.
»Ja bitte?«, fragte diese unsicher.
»Kriminaloberkommissarin Cordes und Kriminaloberkommissarin Wagner. Kripo Wilhelmshaven.« Christine hatte ihren Ausweis schon gezogen, als Wagner noch in den Tiefen ihrer Jacke suchte. »Guten Morgen. Frau Annegret Beenke?«
»Ja?« Die Antwort klang misstrauisch.