Vielleicht hatte Frank noch Lust, essen zu gehen, obwohl er in der letzten Zeit immer müde und abgekämpft aus dem Büro kam. Er kniet sich viel zu sehr in seine Arbeit, dachte Christine, als sie den Schlüssel aus der Tasche kramte und die Tür aufschloss. Im Moment hatten sie fast genauso wenig Zeit füreinander wie früher, als sie noch in Hannover wohnte. Aber das würde sich sicher einspielen.
Als sie das Licht im Flur anmachte, verglich sie ihr Heim unwillkürlich mit dem der Beenkes. Natürlich war der Maadebogen keine so exklusive Wohnlage wie das Villenviertel, hier wohnten überwiegend jüngere Familien. Und selbstverständlich konnte man den Neubau mit Sprossenfenstern in der Sven-Hedin-Straße nicht mit der Villa in der Kantstraße vergleichen. Ganz sicher käme auch niemand auf die Idee, ihre Einrichtung in einem Hochglanzmagazin für schöneres Wohnen abzulichten, aber ihr Haus strahlte Gemütlichkeit aus. Wärme. Man sah ihm an, dass hier gelebt wurde. Auch wenn der sichtbare Beweis dafür gerade aus dem Korb mit leeren Flaschen bestand, den sie heute Morgen vergessen hatte mitzunehmen.
Christine zog ihre Pumps aus, ging die hölzerne Treppe hinauf ins Schlafzimmer und tauschte das Kostüm gegen den kamelfarbenen Nickianzug, den sie in der letzten Vorweihnachtszeit gekauft hatte. Dann lief sie wieder nach unten, nahm aus ihrer Tasche einen Umschlag und legte ihn auf den Wohnzimmertisch. Er enthielt den Obduktionsbericht, der erst kurz bevor sie Feierabend gemacht hatte per Fax gekommen war.
Sie dimmte das Licht, zündete die beiden Kerzen auf dem Tisch an und setzte sich mit angezogenen Beinen auf die Couch. Einen Moment betrachtete sie den weißen DIN-A4-Umschlag. Ob der Inhalt sie weiterbringen würde? Sie zog die Blätter heraus, auf denen Dr. Krüger seinen Bericht verfasst hatte.
Neben der Wunde an der Stirn gab es Spuren von vier Schlägen auf Beenkes Hinterkopf. Einer davon war so stark gewesen, dass er zu den Gehirnblutungen geführt hatte, die durch ein bisher wohl unbemerktes Aneurysma verstärkt worden waren. Körpertemperatur und Mageninhalt begrenzten die Todeszeit auf die Zeitspanne von siebzehn Uhr dreißig bis neunzehn Uhr. Außerdem konnten im Intimbereich des Toten Spuren von Gleitmittel sichergestellt werden. Dr. John Beenke, der verheiratete Museumsdirektor, hatte vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt. Christine war baff. Mit seiner Frau hatte Beenke sicher nicht geschlafen, so wie die von ihrer Ehe erzählte. Obwohl: Hätte sie etwas so Intimes erwähnt? Bestimmt nicht.
Christine legte den Bericht beiseite. Wo Frank nur blieb … Es war schon fast halb neun. Sie überlegte, ihn auf seinem Handy anzurufen, wusste aber, dass er das Telefon nur ungern mitnahm. Meistens ließ er es irgendwo liegen. Überwiegend zu Hause. Oder in der Kanzlei. Oft hatte sie es im Haus klingeln gehört, wenn sie seine Nummer gewählt hatte. Frank war absolut kein Freund der modernen Technik. Mit seinem Computer stand er beinahe auf Kriegsfuß, benutzte ihn zu Hause nie und konnte im Büro auch nur die Programme bedienen, die für seine Arbeit unerlässlich waren. Ob sie einfach mal im Büro anrufen sollte?
Christine griff zum Telefon, das neben ihr auf der schon leicht speckigen dunkelbraunen Ledercouch lag. Frank liebte dieses Möbelstück. Mehrfach hatte Christine versucht, ihn zu einer neuen Garnitur zu überreden, doch er beharrte darauf, dass dieses Teil blieb. Sie hatten es für ihre erste gemeinsame Wohnung in Hannover gekauft, als er noch Student und das Geld knapp gewesen war. Frank machte sich nicht viel aus Luxusgütern, genauso wenig wie aus gepflegter Wohnkultur. Wenn er abends zu Hause war, zog er gleich seinen Schlafanzug unter den marineblauen Bademantel, während Christine erst einen Hausanzug wählte. Das sei unnützes Umziehen, meinte Frank, im Schlafanzug fühle er sich genauso wohl. Außerdem müsse, wer abends unverhofft zu Besuch käme, damit rechnen, den Hausherrn bettfertig vorzufinden. Punkt. Und dieses Sofa gehörte zu ihm. Er würde sich mit Händen und Füßen wehren, falls jemand auf den Gedanken käme, es auszutauschen. Dabei hatte Christine letztens im Prospekt eines Möbelhauses eine wunderbare Garnitur in Eierschalfarbe gesehen … Sie seufzte, wählte seine Nummer in der Kanzlei, doch auch nach neunmaligem Läuten nahm dort niemand ab. Wahrscheinlich war Frank schon auf dem Heimweg.
Ihr Magen meldete sich. Sie ging in die Küche und schmierte Brote. Zum Glück waren noch drei Tomaten im Kühlschrank, die sie viertelte, mit Basilikumblättern dekorierte und an den Tellerrand legte. So sah das Mahl nicht ganz so armselig aus. Franks Teller deckte sie mit Zellophanfolie ab, ließ ihn stehen und kuschelte sich im Wohnzimmer wieder auf die Couch.
Sie musste eingenickt sein, denn sie zuckte zusammen, als Frank den Fernseher anmachte und sich in den Sessel fallen ließ. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es kurz nach zehn war. »Hey«, sagte sie zärtlich, setzte sich auf und beugte sich zu ihm. »Krieg ich denn gar keinen Kuss?«
Frank wandte ihr unbeteiligt das Gesicht zu, sie küsste ihn zart auf den Mund und streichelte ihm über die Wange. »Ist ja schon wieder so spät geworden.«
»Kann ich auch nichts dran ändern.«
»Das war doch kein Vorwurf.« Enttäuscht über seine Reaktion setzte Christine sich wieder. Was war denn falsch daran, so etwas zu sagen? Überhaupt hatte sie in letzter Zeit das Gefühl, sie machte in Franks Augen alles verkehrt.
»Hmm.« Frank starrte auf den Fernseher, in dem eine Comedy-Sendung lief. Christine sah ihn nachdenklich an. Er arbeitete einfach zu viel. Es wurde dringend Zeit, dass er mal wieder Urlaub machte. Nur würden sie damit warten müssen, denn sie musste sich erst einmal in der neuen beruflichen Umgebung eingewöhnen. Vielleicht konnten sie zumindest übers Wochenende mal irgendwo hinfahren. Auf eine der Ostfriesischen Inseln. Da hätten sie keine lange Anreise und wären komplett raus.
Gerade, als sie ihm einen Wochenendausflug vorschlagen wollte, stand Frank auf. »Ich geh ins Bett. Bin hundemüde.« Er lief an ihr vorbei. Kein Kuss. Nichts. Sein leeres Rotweinglas blieb neben dem Teller auf dem Tisch stehen.
Ein paar Minuten versuchte Christine noch, sich auf die Show zu konzentrieren, doch dann drückte sie die Aus-Taste der Fernbedienung. Sie räumte das Geschirr in die Küche, ging ins Bad und schminkte sich ab. Natürlich hatte sie Frank und auch sich selbst eine Umgewöhnungszeit an das Wiederzusammenleben eingeräumt. Aber diese Zeit müsste inzwischen vorbei sein. Sie zog den Nickianzug aus und schlüpfte in ihr Nachthemd. Im Schlafzimmer brannte kein Licht mehr, Frank schlief. Sei nicht so mädchenhaft, Ehen sind nun mal so, hörte sie die Stimme ihrer Oma, als sie hellwach im Bett lag. Nimm endlich die rosarote Brille ab, Kind.
***
»Na, Mama, ist ja spät geworden«, begrüßte Alex Oda, als sie die Wohnung betrat. Er sah ihr von der Küchentür aus entgegen, ein Glas Cola in der Hand. »Gab’s was Besonderes?«
»Einen Toten im Nordseemuseum.« Oda nahm Alex das Glas aus der Hand und trank einen Schluck. »Der Direktor.«
»Nee, sag bloß, ein Mord?«
»Jo.«
»Mit viel Blut?«
»Alex!« Ihr sechzehnjähriger Sohn hatte derzeit eine Vorliebe für blutrünstige Filme, Bücher und ebensolche Musik. Gemeinsam mit seinen Freunden Kurtchen und Björn spielte er in einer Band Black Metal. An sich mochte Oda diese Musik nicht, doch wenn Alex auf der Bühne stand, seine blonden Wuschellocken mit Gel glatt auf dem Kopf gebändigt und das Gesicht schwarz-weiß angemalt, dann war sie stolz wie Oskar. Sie drückte ihm das Glas wieder in die Hand, schnappte sich den Wasserkocher, füllte Wasser hinein und stellte ihn an. »Trinkst du einen Tee mit?«
»Ich hab ja die Cola.« Er griente. »Zumindest das, was du mir übrig gelassen hast.«
»Ist doch bestimmt noch mehr da. Wie sieht’s mit Abendbrot aus?«
»Joa, da bin ich dabei.«
»Dann fang schon mal an, den Tisch zu decken.« Oda nahm einen Teefilter aus dem Schrank und gab Teeblätter hinein.
»Was war denn nun mit dem Museumsdirektor?«, bohrte Alex nach, während