Der die Träume hört. Selim Özdogan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Selim Özdogan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960542032
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netten Ausländer: charmant, geizt nicht mit Komplimenten, ich schmierte ihnen Honig ums Maul, zeigte Verständnis dafür, dass sie sich im Neuland nicht auskannten. Sagte ihnen, dass es mir mit einem anderen Beruf wahrscheinlich genauso ginge.

      Bei denen rief ich aber auch nicht solche Honorare auf.

      Ich sah ihn an. Ich fragte mich, ob ich zu hoch gepokert hatte.

      – Es steht Ihnen natürlich frei, sich woanders noch ein zweites Angebot einzuholen, sagte ich.

      – 17.000, sagte er und stand auf. Wir gaben uns die Hand.

      Nachdem ich ihn verabschiedet hatte, konnte ich mich nicht freuen. Erstens war nicht gesagt, dass ich den Dealer finden konnte. Zweitens war sein Sohn gerade gestorben. Ein Jahr älter als Lesane. Drittens mochte ich Herrn Armbruster nicht und wollte eigentlich gar nicht für ihn arbeiten.

      Drittens war egal. Ich mochte die meisten Menschen nicht.

      Es war alles beim alten, nur dass ich Gelegenheit hatte, ordentlich Asche zu verdienen.

      Ich war noch eingeloggt bei Dream Market und klickte auf die Angebote von Tr4der Joe, legte fünf Gramm Critical Mass in meinen Einkaufswagen, bezahlte mit meinem Bitcoinguthaben.

      Diese Plattformen hatten alle ein Treuhandsystem, das sich Escrow nannte. Die Bitcoins, mit denen man bezahlt hatte, blieben auf der Plattform, bis man den Erhalt der Ware bestätigt hatte oder bis eine bestimmte Frist abgelaufen war, dann erst wurden sie dem Händler gutgeschrieben. So versuchte man sicherzustellen, dass Käufer nicht betrogen wurden.

      Die Kursschwankungen des Bitcoin, die Gefahr, dass die Plattform von den Behörden jederzeit geschlossen werden konnte, und die Möglichkeit, dass der Käufer der unehrliche war, der zwar die Ware bekam, aber behauptete, nichts erhalten zu haben, all diese Gefahren führten dazu, dass manche Händler ihre Ware erst losschickten, nachdem man verfrüht den Erhalt bestätigt hatte. Tr4der Joe war einer von ihnen. Ich bestätigte den Erhalt des Grases und vergab bei der Bewertung 5 Sterne. Dazu schrieb ich: FE, finalized early, will update.

      Das war nicht meine erste Bestellung bei Tr4der Joe, ich wusste, dass sie ankommen würde.

      3

      Sonntags schlief ich immer lange. Oder versuchte es zumindest. Ich ließ die Augen geschlossen und drehte mich immer wieder um. Ich stellte mir vor, ich würde eine lange Treppe hinabsteigen, die geradewegs in den Schlaf führte. Manchmal klappte es.

      Ich versuchte lange zu schlafen, als würde Schlaf mich schützen oder rüsten. Ich versuchte nicht mehr, sonntagvormittags zu meditieren, es war einfach zwecklos, es war die Zeit, in der ich meinen Geist am wenigsten unter Kontrolle hatte. Es sah dann nur so aus, als würde ich ruhig sitzen, aber je ruhiger ich vielleicht schien, desto mehr füllte sich alles mit Sorgen, als sei ich ein Gefäß, in das man dunkle Gedanken hineinschüttet. Je länger ich sonntags saß, desto eher war ich davon überzeugt, dass ich einfach nicht genug Liebe in mir hatte.

      Ich frühstückte nicht, weil sie sich freute, wenn ich viel aß, wenigstens das.

      Monatelang hatte ich sonntags Fleisch gegessen, weil ich es nicht übers Herz brachte ihr zu sagen, dass ich eigentlich damit aufgehört hatte. Schließlich hatte ich es doch erzählt, und sie hatte geschimpft und mich gefragt, was ich glaubte damit zu erreichen. Doch es hatte nicht dazu geführt, dass sie weniger kochte oder ihr gar die Ideen ausgingen.

      Ich werde aufmerksam sein, nahm ich mir vor, als ich kurz vor eins die Treppen hochstieg. Ich werde zuhören. Ich werde nicht müde werden. Ich werde nicht in Gedanken abschweifen. Ich werde nicht gegenhalten und ich werde nicht genervt sein. Regelmäßig rappte ich auf diesen Stufen zu ihrer Wohnung: There’s no way I can pay you back, but the plan is to show you that I understand: you are appreciated.

      – Nizar, sagte sie und umarmte mich, gab mir einen Kuss links und einen Kuss rechts, mein Sohn, komm rein. Du bist nicht wie die anderen. Gott sei’s gedankt.

      Während des Essens hörte ich zu, wie sie erzählte, dass Güls Schwester jetzt im Sommerhaus wohnen würde, dass die beiden sich endgültig zerstritten hätten. Sie erzählte, dass Hakan mit einer Zwei-Drittel-Strafe aus der Haft war, dass Amira und Latif geheiratet hatten, aber jeder wusste, dass er fremdging. Sie erzählte von Brana, die fortgezogen war, um ungestört anschaffen gehen zu können, von Samiha, die in ihrem Alter noch putzen ging, von Giwar, der seinem Sohn Klavierstunden bezahlte und sich für etwas Besseres hielt. Von Alp, der seine Tochter in die Türkei geschickt hatte, weil jemand sie beim Knutschen gesehen hatte, von Hazal, die einen Studenten vor die U-Bahn geschubst hatte, von Timur, der einen Vertrag unterschrieben hatte und jetzt mit Rap Geld verdienen wollte, von Mikolaj, der letzten Monat insgesamt 14.000 Euro mit Sportwetten verdient hatte und jetzt überall damit angab. Sie erzählte, wie Snežana mit Zoran über Hakeem geredet hatte, weil Gülşah Vince verraten hatte, dass Canan ihrer Mutter das Handy geklaut hatte. Oder so ähnlich. Ich schaffte es nicht mehr zuzuhören. Zu vielen der Namen hatte ich Gesichter, doch viele waren mittlerweile verschwommen in meiner Erinnerung. Die Namen der Jüngeren sagten mir gar nichts, und das war gut so. Ich interessierte mich einfach nicht dafür, was in Westmarkt passierte. Auch ihr zuliebe nicht. Ich interessierte mich nicht dafür, aber ich wusste dennoch fast alles. Oder hätte es wissen können, wenn ich es geschafft hätte zuzuhören.

      Neun Jahre war es her, dass ich sie überredet hatte, aus Westmarkt wegzuziehen, Tha Carter III war damals erschienen: I got her out the hood and put her in the hills.

      Was hatte ich geredet, von schmerzhaften Erinnerungen, die sie dort nie loslassen würden, davon, dass niemand auf Dauer besser als seine Umgebung sein konnte, dass es ihr guttun würde, dass auch in anderen Vierteln Türken wohnten, dass sie sich wohlfühlen würde, dass es hier sauberer sei, geordneter, dass wir näher beieinander wären, dass wir uns zu Fuß besuchen könnten.

      Vielleicht hätte ich es besser wissen müssen. Aber damals war sie weniger verbittert gewesen. Damals hatte ich nicht geahnt, wie lang ihre Monologe werden würden, damals hatte sie mal gute und mal schlechte Laune gehabt. Jetzt schien sie nur noch eine Stimmungslage zu kennen.

      Ich fragte mich, ob ich mir etwas vormachte, was meine Gründe anging. Hatte ich sie nur überredet, weil ich einfach nicht mehr jede Woche nach Westmarkt fahren wollte, um dort auf der Straße alten Bekannten über den Weg zu laufen? Hatte ich gedacht, diese Sonntage würden für mich leichter werden, wenn sie woanders wohnte? Sie waren leichter geworden, am Anfang, doch dann hatte sich irgendetwas geändert. Ich wusste nicht was genau. Vielleicht war ich nicht aufmerksam genug gewesen.

      Jeden Tag, jeden Tag bis auf Sonntag fuhr sie noch nach Westmarkt, jeden Tag ging sie durch diese Straßen, jeden Tag saß sie in Nilgüns Backshop, jeden Tag klönte sie in Defnes Blumenladen, jeden Tag verbrachte sie mit Geschichten und Gerüchten von Liebe, Verrat, Knast, Drogen und Gewalt.

      – Möchtest du noch ein wenig von den Sıkma?, fragte sie.

      – Ja, gerne, sagte ich. Die sind lecker geworden. Deinen Händen sei’s gedankt.

      – Du bist ein guter Junge, sagte sie. Womit hat deine Mutter so einen wie dich verdient?

      Die Einleitungen unterschieden sich, doch ich ahnte natürlich, wohin das Gespräch schwenkte. Ich versuchte mich auf ihre Trauer einzustimmen, ihren Gram. Natürlich würden sie davon nicht verschwinden. Ich wollte nur bei ihr sein, mich verbunden fühlen. Ich wollte nicht genervt sein von ihrer Tirade. Ich wollte ihr etwas zurückgeben.

      Nie hatte ich gehungert in ihrem Haus, nie hatte es mir an Kleidung gefehlt, an Berührungen, an Koseworten. Sevgi hatte mir beigebracht, aufrichtig zu sein, sie hatte mich in Schutz genommen, auch wenn ich im Unrecht war, sie hatte mir gezeigt, dass man ruhig Fehler machen durfte. Selbst die großen Fehler, die Dummheiten, die Dealerei, den Jugendarrest hatte sie verziehen. Sie hatte an mich geglaubt, daran, dass ich den rechten Weg gehen würde. Sie hatte versucht mir beizubringen, ohne Groll, ohne Wut, ohne Rachegelüste zu leben. Sie hatte daran geglaubt, dass man Worte nicht gebrauchen durfte, um andere zu verletzen, dass man nicht stehlen und betrügen durfte, dass man seinen Lebensunterhalt