Josephus, der im Jahr 37 n. Chr. in Judäa als Sohn einer vornehmen Priesterfamilie geboren war, kannte sich in den Verhältnissen im Israel seiner Zeit bestens aus. Er wird die christlichen Gemeinden in Jerusalem und ganz Palästina zumindest aus den Berichten vieler Mitbürger gekannt haben. So verwundert es nicht, dass seine Aussagen im Kern mit denen übereinstimmen, die wir im Neuen Testament und in den frühchristlichen Schriften finden.
Rabbinische Texte
Auch die ältere rabbinische Literatur enthält Hinweise auf Jesus. Nach der Zerstörung des Tempels und der Zerschlagung des jüdischen Volkes begann ein mühsamer Prozess des Wiederaufbaus. Vieles ging sicher für immer verloren. Erstaunlich viele Traditionen konnten jedoch bewahrt werden und wurden von den Schulen, besonders in Jamnia im westlichen Palästina, wo ein neuer Sanhedrin23 gebildet wurde, festgehalten. So entstand die Mischna, in der die religiösen Gesetze zusammengefasst und erläutert wurden. Diese wiederum wurde bald in Palästina und Babylon selbst studiert und erläutert. Die so entstandenen Kommentare (Gemara) bilden zusammen mit der Mischna den Talmud. Außerdem gab es noch die sogenannte Tosefta, eine Auslegung der Mischna, die nicht in den Talmud aufgenommen wurde. In der frühen Zeit dieser Kanon-Bildung, die als die tannaitische bekannt ist (Tannaiten heißt Lehrer oder auch Repetitoren), wurden auch Traditionen überliefert, die Jesus erwähnen.
Eine dieser Traditionen lautet:
„Am Vorabend des Pesachfestes henkte man Jesus. Vierzig Tage vorher hatte der Herold ausgerufen: Er wird zur Steinigung hinausgeführt, weil er Zauberei betrieben und Israel verführt oder abtrünnig gemacht hat, wer etwas zu seiner Verteidigung zu sagen hat, komme und bringe es vor. Da aber nichts zu seiner Verteidigung vorgebracht wurde, so henkte man ihn am Vorabend des Pesachfestes.“24
Hier wird in Übereinstimmung mit dem Johannesevangelium berichtet, dass Jesus am Vorabend des Passafestes hingerichtet wurde. Der Hinweis auf die Zauberei, die Jesus nachgesagt wird, ist wie in anderen jüdischen Texten der Versuch, die Wunder, die Jesus tat, zu erklären. Auch in den Evangelien wird von der Behauptung der pharisäischen Gegner Jesu berichtet, er täte seine Wunder und Machttaten durch die Macht des Teufels. Eine andere Tradition, die der zitierten beigefügt wurde, besagt, dass Jesus „dem Königtum nahestand“, was wohl heißen soll, dass er von König David abstammte.25 Auch hier findet sich eine Übereinstimmung mit den Evangelien. Dass ein Herold vierzig Tage vorher zur Verteidigung Jesu aufgerufen habe, ist eine spätere Erfindung und angesichts der Tatsache unmöglich, dass ja die Römer unter Pontius Pilatus Jesus kreuzigten. Offensichtlich sollte diese Angabe nur beweisen, dass die Juden nichts unversucht gelassen hätten, um Jesus zu retten, was aber nicht den historischen Tatsachen entspricht.
Eine weitere Erwähnung Jesu findet sich in manchen rabbinischen Texten, in denen er „Jesus ben Pantera (oder Pandera)“ genannt wird. Dies könnte „Sohn des Panters“ bedeuten, was aber keinen richtigen Sinn ergibt. Wahrscheinlich ist dieser Name eine Verballhornung des griechischen Wortes parthenos „Jungfrau“, sodass eben „Jesus, Sohn der Jungfrau“ gemeint ist.
Aus den übrigen Erwähnungen sei noch eine Tradition wiedergegeben, die aus Palästina kurz nach dem Jahr 70 n. Chr. stammt. Ein gewisser Jaakow kommt, um einen anderen Rabbi, Elieser ben Dama, im Namen von Jesus ben Pandera von einem Schlangenbiss zu heilen. Der Onkel von Elieser, Rabbi Ishmael, verbietet dies, weil es nicht gestattet sei, im Namen Jesu zu heilen. Elieser versucht aber im eigenen Interesse, die Zulässigkeit einer Heilung im Namen Jesu aus dem Gesetz zu beweisen. Während die Diskussion noch andauert, stirbt Elieser, und sein Onkel preist ihn glücklich, da er im Frieden gestorben sei, was besser wäre, als die Wiederherstellung der Gesundheit im Namen Jesu anzunehmen26.
Hier gewinnen wir ein Bild der Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums in Palästina im ausgehenden 1. Jahrhundert. Es gab natürlicherweise viele Kontakte zwischen den Juden, die an Jesus als Messias glaubten, und denen, die ihn nicht anerkannten. Offensichtlich hatten manche der Judenchristen Mut genug, ihren kranken Nachbarn und Freunden Gebet um Heilung im Namen Jesu anzubieten. Interessanterweise wird nicht diskutiert, ob solch eine Heilung möglich sei, sondern nur, ob sie vom Gesetz her zulässig ist, da Jesus ja nicht anerkannt war. Jaakow aber handelt genau gemäß dem, was die Jünger Jesu in den Evangelien von Jesus als Auftrag bekommen hatten: „Bringt den Kranken Heilung, … vertreibt die Dämonen!“27
„Sie werden die Hände auf Kranke legen, und die werden dann wieder ganz gesund werden.“28
Wir sehen also, dass die Diskussion um Jesus im 1. Jahrhundert in Palästina, in Rom und anderswo in vollem Gang war. Denn die Überlieferungen, wie sie hier im Überblick gegeben werden, stellen ja nicht mehr als die Spitze des Eisbergs da. Wären alle Schriften des Altertums bewahrt, könnten wir sicher ein noch viel vollständigeres Bild von Jesus, seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung sowie von den ersten Jüngern gewinnen. Doch was wir außerhalb des Neuen Testaments über Jesus erfahren, ist schon beachtlich. Es ist wie ein Scherenschnitt, anhand dessen wir die groben Züge von Jesus erkennen können.
Wenn wir jedoch Jesus genauer ins Blickfeld bekommen möchten, müssen wir ins Neue Testament schauen. Dort sehen wir Jesus, wie er wirklich war.
JESUS IN DEN EVANGELIEN
Was wir von Jesus wissen, wissen wir durch das Neue Testament. Wer die Berichte der Evangelien vorurteilsfrei liest, wird ein immer deutlicheres Bild von der Person Jesus gewinnen. Seine Worte, seine Taten, seine Reaktionen, sein Umgang mit Menschen, all dies und viel mehr tritt so klar vor unser geistiges Auge, dass wir das Gefühl bekommen, Jesus wirklich persönlich zu kennen. Er fasziniert bis auf den heutigen Tag. Wir finden Jesus aber nicht an den Evangelien vorbei. Sie sind die einzigen durchgängigen Berichte, die wir vom Leben und Sterben Jesu haben. Zwar lassen sie vieles aus dem Leben Jesu aus. Nur zwei der Evangelien berichten etwas aus seiner Kindheit und Jugend. Die ersten Jahrzehnte seines Lebens werden kaum erwähnt. Der Fokus der Evangelien liegt auf dem öffentlichen Wirken Jesu seit seiner Taufe. Es sind nur wenige Jahre, zwei oder drei, in denen er mit seinen Jüngern durch Palästina wanderte und seine Botschaft verkündigte. Nach dem gestrafften Bericht der synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) scheint es gerade ein Jahr gewesen zu sein mit nur einer Reise von Galiläa nach Jerusalem, während Johannes ausführlicher von mehreren Wanderungen nach Jerusalem zu den jährlichen Festen berichtet. In jedem Fall war es nur eine kurze Zeit, in der Jesus öffentlich auftrat. Und doch veränderten diese wenigen Monate den Gang der Weltgeschichte.
Evangelium – eine Nachricht, die alles verändert
Davon berichten die Evangelien. Das Wort Evangelium bezeichnet eine ganz neue Literaturgattung, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Die Evangelien sind ganz anders als die üblichen Biografien des Altertums. An vielen Einzelheiten des Lebens Jesu gehen sie vorüber. Sie konzentrieren sich auf eins: darzustellen, was Jesus sagte, was er tat, wie er Menschen begegnete, wie er starb und was danach geschah. In dem allen findet sich das „Evangelium“. Das Wort bedeutet genau übersetzt: „gute Nachricht, Botschaft, die Gutes bringt“. Es wurde ursprünglich im römisch-griechischen Umfeld gebraucht, wenn der Kaiser einen Erlass verkündigen ließ, zum Beispiel die Nachricht, dass Steuern erlassen wurden (was selten vorkam). Oder dass ihm ein Sohn und Thronfolger geboren wurde. Also eine gute Nachricht, die alle anging.
Die Schreiber der Evangelien gebrauchten diesen Begriff, auch in Anlehnung an die Stelle im Alten Testament, um zu beschreiben, was Jesus bedeutet. Denn dort war vorausgesagt worden, dass Gott eine neue, gute Nachricht verkündigen