Beide Bedeutungsstränge zusammengenommen zeigen, was ein Evangelium ist: Es ist die Botschaft Gottes, die alle angeht. Das ganze Leben Jesu ist eine einzige gute Nachricht für die Menschen. Deshalb wählten die Berichterstatter diesen Ausdruck, Evangelium, als Namen für ihre Jesusberichte.
Die Evangelien sind zuverlässig
Die Evangelien sind also Berichte über Jesus, die in der frühen Christenheit niedergeschrieben wurden. Keine anderen Schriften der Weltliteratur sind gründlicher untersucht worden als die Bücher des Neuen Testaments und vor allem die vier Evangelien. Und je länger sich Wissenschaftler mit ihnen befassen, umso größer wird das Vertrauen darauf, dass sie historisch zuverlässig sind. Während man vor 50 Jahren noch an vielen Orten die Glaubwürdigkeit der Evangelien stark in Zweifel zog, ist man inzwischen viel vorsichtiger in der Kritik geworden. Denn immer wieder zeigte sich, dass die Evangelien doch recht hatten. Im Anhang gehen wir etwas genauer auf ihre Entstehung ein. Deshalb soll hier nur ein kurzer Abriss gegeben werden.
Nach einer Phase der mündlichen Weitergabe der Worte und Taten Jesu fingen schon früh Christen an, einzelne Aussprüche Jesu zusammenzustellen und einen Abriss seines Lebens zu geben. In der Antike galt allgemein die mündliche Tradition mehr als die schriftliche. Die verlässliche Weitergabe einer Aussage von Augenzeugen an zuverlässige „Tradenten“, also Überlieferungsträger, die das Gehörte auswendig lernten, war der normale Weg, Dinge für die Nachwelt zu erhalten. In Gesellschaften, die nicht so sehr vom geschriebenen und gedruckten Wort abhängig sind wie wir, ist dies heute noch üblich. Wo nicht die ständige Reizüberflutung einer fast totalen Medienversorgung herrscht, ist es ohne Weiteres möglich, auch längere Texte auswendig zu kennen. Ich selbst habe in Kairo sechsjährige Kinder gesehen, die schon den ganzen Koran auswendig wussten. Die großen Werke von Homer, Ilias und Odyssee wurden über Jahrhunderte mündlich überliefert. Auch in Afrika und Asien finden wir dies: Menschen können erstaunliche Gedächtnisleistungen vollbringen, wenn sie etwas für so wertvoll und wichtig halten, dass es überliefert wird.
Nun handelt es sich bei den Evangelien längst nicht um so riesige Zeiträume, in denen die Informationen nur mündlich weitergegeben wurden. Man geht heute allgemein davon aus, dass Markus das früheste Evangelium ist und in der Mitte der Sechzigerjahre des 1. Jahrhunderts n. Chr. in Rom entstand. Das bedeutet, dass ein Abstand von nicht viel mehr als 30 Jahren zu den Ereignissen besteht, die berichtet werden. Viele der Augenzeugen lebten noch. Markus selbst stammte aus Jerusalem und hielt in seinem Evangelium vor allem die Erinnerungen der Urgemeinde in Jerusalem und die von Petrus fest, der zu der Zeit in Rom war und kurz darauf den Märtyrertod erlitt.
„Eine alternative Möglichkeit der Abfolge der Niederschrift der Evangelien basiert auf der Aussage des Kirchenvaters Papias: Er berichtet, dass Matthäus als erster ein Evangelium verfasst hat, und zwar in hebräischer Sprache, und erst danach Markus und Lukas ihre Evangelien auf Griechisch schrieben. Die griechische Version des Matthäusevangeliums wäre demnach eine Übersetzung und eventuell Erweiterung des ursprünglichen hebräischen Evangeliums, die wahrscheinlich von Matthäus selbst angefertigt wurde.“30
Die Absicht des Lukas
Lukas, der einige Jahre später schrieb, meiner Auffassung nach noch vor der Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) und vor Paulus’ Tod (66 oder 64 n. Chr.), leitet sein Evangelium mit folgenden Worten ein:
„Hochverehrter Theophilus! Nachdem jetzt schon viele Personen sich darin versucht haben, einen Bericht zusammenzustellen von den Dingen, die sich in unserer Mitte ereignet haben – und das aufgrund der Aussagen derjenigen, die selbst Augenzeugen waren und sich dann der Aufgabe gewidmet haben, diese Botschaft weiterzugeben –, habe auch ich es für gut erachtet, es für dich der Reihe nach aufzuschreiben, nachdem ich alles ganz genau von seinem Anfang an untersucht habe, damit du die Zuverlässigkeit der Berichte und Aussagen erkennst, in denen du unterrichtet worden bist.“31
Der griechische Arzt Lukas, der Christ geworden war und als Mitarbeiter von Paulus in den frühen Gemeinden bekannt war, legt hier klare Rechenschaft ab über seine Ziele und Vorgehensweise bei der Abfassung seines Evangeliums. Er hat ein deutliches historisches Interesse. Es stimmt nicht, was oft gesagt wird, dass die Verfasser der Evangelien am wirklichen, geschichtlichen Jesus uninteressiert gewesen seien. Lukas hat genau recherchiert (im Griechischen steht hier das Wort akribôs, also „akribisch, sorgfältig“), hat die schon vorhandenen Berichte zur Kenntnis genommen und gesichtet und will jetzt „der Reihe nach“, also chronologisch von Jesus berichten. Das alles tut er, damit sein Leser, ein gewisser Theophilus, dem er sein Evangelium widmet, und dann alle anderen, die es auch lesen, die „Zuverlässigkeit“ der ihnen vermittelten christlichen Unterweisung erkennen. Hier liegt wieder die Betonung auf der Tatsächlichkeit der beschriebenen Ereignisse und dem Wunsch, so genau und exakt wie möglich zu erfahren und zu vermitteln, was Jesus gesagt und getan hat.
Lukas hat seinem Evangelium die Apostelgeschichte als zweiten Teil seines Werkes angefügt. Auch dort zeigen sich sein geschichtliches Interesse sowie seine genaue Kenntnis der Zeitumstände. Viele Einzelheiten, besonders im Bereich der politischen Ordnung der verschiedenen Städte und Landschaften im römischen Reich, die Lukas erwähnt, sind inzwischen durch archäologische Funde bestätigt worden. Lukas wie den anderen Evangelisten, Markus, Matthäus und Johannes, ging es also um verlässliche Informationen über Jesus.
Die Zuverlässigkeit der Evangelien-Berichte
Und diese Informationen über Jesus sind uns zuverlässig übermittelt worden. Der Text des Neuen Testaments, wie er uns heute vorliegt, entspricht dem, was damals geschrieben worden ist. Wir sind also bei den Evangelien an der richtigen Adresse, wenn wir etwas über Jesus erfahren und verlässliche Informationen über ihn erhalten wollen. Das Bild, das die römischen und jüdischen Schriftsteller nur undeutlich zeichnen, wird hier ganz deutlich.
Wenn wir Jesus kennenlernen wollen, müssen wir uns in die Evangelien vertiefen. Deren geheime Frage, wer Jesus ist, ist in vielen Einzelabschnitten das Leitthema.32 Dort begegnet uns eine Person, die wirklich faszinieren kann. Damals wie heute zieht Jesus Menschen mit Macht an. Und die Auswirkungen seiner Worte, seiner Taten und seines Lebens sind weitreichend.
In den folgenden Kapiteln werden wir uns mit einigen Aspekten seiner Lehre, seines Wirkens, seines Lebens und Sterbens befassen. Doch auch das kann nur ein Anfang einer Beschäftigung mit Jesus sein. Denn Jesus sprengt alle Rahmen, auch den Rahmen einer solchen Darstellung. Das hatte schon der Evangelist Johannes erkannt: „Noch viele andere Dinge tat Jesus. Aber wenn die alle vollständig aufgeschrieben würden, dann könnte meiner Meinung nach die Welt all die Bücher nicht aufnehmen, die geschrieben werden müssten.“33
1Lk 3,23
2Vgl. Anhang 1, 2 und 5.
3Vgl. z. B. W. W. Gasque: The Historical Value of the Book of Acts. Theologische Zeitschrift Jahrgang 28. Heft 3 Mai-Juni 1972. S. 177-196.
4Vgl. Roland Werner: Zehn gute Gründe, Christ zu werden. Neukirchen-Vluyn 6. Auflage 2004. S. 35ff.
5Im Anhang 5 werden die Texte ungekürzt wiedergegeben.
6Justin, Erste Apologie 35, 7-9 und 48, 3.
7Sueton, Vita Claudii 25, 4.