Oft wird gesagt, dass wir von Jesus eigentlich nichts wissen. Das ist die Vorstellung, die in vielen Köpfen herumgeistert. Ein Theologe des 20. Jahrhunderts, der Marburger Rudolf Bultmann, hat es einmal ganz krass ausgedrückt: Seiner Meinung nach brauchen wir von Jesus nichts zu wissen als das „Dass des Gekommen-Seins“. Diese extreme Aussage hat er selbst aber so gar nicht geglaubt. Er hat sie selbst in vielen seiner Schriften widerlegt, in denen er sich sehr wohl historische Urteile über das Leben Jesu bildete und viele Einzelzüge des geschichtlichen Jesus darstellte. Außerdem ist man heute entscheidend weitergekommen und beurteilt die historische Lage viel positiver.2
Nun ist von uns ja keiner damals dabei gewesen. Wir sind bei Jesus wie bei jeder anderen Person der Geschichte auf Zeugnisse von Zeitgenossen angewiesen, also auf historische Quellen. Aus diesen Quellen können wir Rückschlüsse ziehen auf das, was damals passiert ist. Keiner von uns war dabei, als Julius Cäsar mit seinem Heer den Rubikon überschritt. Und dennoch nehmen wir das aufgrund der schriftlichen Überlieferungen und der Auswirkungen, die dieses Ereignis für die römische Geschichte hatte, als wirklich geschehen an. Ebenso hat kein Mensch des 21. Jahrhunderts Sokrates gesehen. Und dennoch gehen wir von seiner Geschichtlichkeit aus, weil wir von Platon und anderen Zeitgenossen Berichte über das Leben des Sokrates haben.
Die Evangelien als verlässliche Informationsquellen
Wie im Anhang ausführlicher dargestellt wird, sind wir bei den Berichten über das Leben Jesu auf mindestens ebenso gutem, wenn nicht viel besserem Grund als bei vielen anderen Persönlichkeiten der antiken Welt. Wir besitzen in den Evangelien den Ertrag von Augenzeugenberichten von hohem Wert. Die Manuskripte des Neuen Testaments sind viel besser erhalten und viel früher anzusetzen als bei allen anderen antiken Autoren. Ebenso werden die neutestamentlichen Texte schon in Schriften am Ende des 1. Jahrhunderts und dann ausgiebig im 2. Jahrhundert zitiert, sodass klar ist, dass sie damals schon weit verbreitet waren. Und auch inhaltlich sind sie stimmig. Was die Evangelien und die Apostelgeschichte berichten, fügt sich lückenlos in das ein, was wir sonst über die antike Welt wissen. Lukas, der Verfasser des nach ihm benannten Evangeliums und der Apostelgeschichte, zeigt eine genaue Kenntnis der Verhältnisse im Römischen Reich im 1. Jahrhundert und wird von Historikern als Quelle für das Altertum hoch eingeschätzt.3 Vieles, was früher angezweifelt wurde, hat sich inzwischen bewahrheitet.4 So entspricht z. B. die Darstellung der Kreuzigung Jesu genau der damals geübten Praxis, wie wir sie aus römischen Quellen kennen. Und die Beispiele sind beliebig zu vervielfachen.
So ist die historische Lage bei Jesus besser als bei den meisten Persönlichkeiten der alten Welt.
Gründe für die Evangelienkritik
Und doch sind wir bei den Berichten, die wir in den Evangelien lesen, besonders kritisch. Woher kommt das? Hier spielen sicher zwei Gründe eine Rolle. Zum einen passt vieles, was in den Evangelien berichtet wird, nicht in unser gegenwärtiges westliches Weltbild. Alles sogenannte Übernatürliche, also Heilungen, Wunder, Prophetien und alles nicht sofort Erklärbare, wird von vielen unserer Zeitgenossen von vornherein abgelehnt. Das ist eine typisch westliche Erscheinung aufgrund des sogenannten naturwissenschaftlichen Weltbilds. In vielen anderen Kulturen rechnet man ganz natürlich mit sogenannten übernatürlichen Dingen. Und auch im Westen ist man unter dem Einfluss der modernen Physik und der Weiterentwicklung der Wissenschaft viel vorsichtiger geworden mit grundlegenden Urteilen über das, was möglich ist und was nicht. Diese Erkenntnis hat noch nicht alle Zeitgenossen erreicht, wird sich aber längerfristig sicher durchsetzen. Hiermit fallen viele der grundlegenden Einwände gegen die Bibel in sich zusammen.
Die Kritik an den neutestamentlichen Texten hat jedoch neben dem Grund, dass vieles nicht in unser zeitbedingtes und einseitiges westliches Weltbild passt, noch eine weitere Ursache. Und die liegt in der Brisanz der ganzen Sache. Denn wenn das stimmt, was von Jesus berichtet wird, dann hat das automatisch Konsequenzen für unser Leben. Und die sind nicht immer angenehm. Der Anspruch, den Jesus erhebt, ist unbequem. Wenn das wahr ist, was er sagt, dann kann man sich nicht einfach an Jesus vorbeimogeln. Dann muss man sich seinem Anspruch stellen. Und das hat Auswirkungen in allen Bereichen der Lebensgestaltung. Das passt uns vielfach nicht. Das ist zu herausfordernd.
Ich glaube, dass hier der tiefste Grund für die innere Abwehrhaltung gegenüber der Bibel liegt. Ein bisschen Religion ist okay. Aber konsequente Nachfolge eines Jesus, der wirklich von Gott kommt und einen Anspruch auf unser Leben hat, so wie das Neue Testament es sagt, das ist eine ganz andere Sache. Das würde sehr viel kosten.
Doch zurück zu der Frage, was wir von Jesus wissen. Neben den Evangelien gibt es einige Informationen in außerbiblischen Texten. Diese sollen hier im Überblick dargestellt werden.5
JESUS IN DER RÖMISCHEN
GESCHICHTSSCHREIBUNG
Es ist nicht verwunderlich, dass wir in den römischen Quellen kaum zeitgenössische Berichte über das Leben Jesu finden. Die Geschichtsschreiber beschäftigten sich damals – wie heute – vor allem mit dem Leben der Einflussreichen und Mächtigen. Das Kaiserhaus, Eroberungskriege, der Senat in Rom, Intrigen, Skandale und Liebesaffären von bekannten Leuten, das waren die Themen, die berichtenswert erschienen. Außerdem waren die Schriftsteller und Dichter von der Gunst der führenden Schicht abhängig. Sie schrieben häufig bestellte Lobeshymnen auf die jeweiligen Herrscher und ihre Errungenschaften. Kritik war nur in begrenztem Maß möglich, und meist erst im Nachhinein wie bei Nero, der in Ungnade gefallen war. Es wundert daher nicht, dass wir von römischen Schriftstellern wenig über Jesus, einen jüdischen Lehrer in einem von Rom eroberten Gebiet im Osten des Reiches, erfahren. Was wirklich verwundert, ist, dass überhaupt etwas berichtet wird. Von den Berichten, die jeder Gouverneur von Judäa sicher regelmäßig nach Rom senden musste, ist uns z. B. überhaupt nichts erhalten geblieben. Für die Auflösung dieser Archive des „ewigen Roms“ sorgten neben dem ständig nagenden Zahn der Zeit auch größere Katastrophen wie Brände und die Stürme der Völkerwanderung, die die germanischen Heerscharen nach Italien brachten. Da blieb nicht viel übrig.
Solche Berichte, auch aus der Amtszeit des Pilatus, muss es jedoch in Rom gegeben haben, und noch im Jahr 150 n. Chr. konnte Justin der Märtyrer in seiner Verteidigungsschrift für die Christen an den Kaiser Antoninus Pius auf die unter Pontius Pilatus angefertigten Akten verweisen, die von den Ereignissen bei der Kreuzigung Jesu berichteten.6
Ausführlichere Berichte als diese kurzen Hinweise, die an mehreren Stellen auftauchen, finden sich bei den römischen Geschichtsschreibern Sueton, Tacitus sowie bei Plinius dem Jüngeren. Wir wollen sie einzeln untersuchen und darstellen, was sie uns an Information über Jesus zu bieten haben.
Sueton
Der römische Schriftsteller Sueton verfasste um das Jahr 120 n. Chr. eine Biografie der zwölf ersten römischen Kaiser in lateinischer Sprache. In der Beschreibung des Lebens des Claudius heißt es: „Die Juden vertrieb er aus Rom, weil sie, von einem gewissen Chrestos aufgestachelt, fortwährend Unruhe stifteten.“7 Dies geschah im Jahr 49 n. Chr. Sueton hatte seine Information wahrscheinlich einem Polizeibericht entnommen, den er jedoch etwas missverstand. Er nahm wohl an, dass dieser Chrestos im Jahr 49 n. Chr. in Rom anwesend war. In Wirklichkeit handelte es sich aber um Auseinandersetzungen innerhalb der Judenschaft über die Frage, ob Jesus der Christus sei. Die Schreibung Chrestos für Christos ist aus dem sogenannten Itazismus im Griechischen zu erklären, also der Tendenz, manche Vokale und Doppelvokale nur noch als langes i zu sprechen. So lautet Athen heute auf Griechisch Athini. Diese Verwechslung von „Chrestos“ und „Christos“ ist also verständlich, da Christus ja ein griechisches Wort ist, das Sueton nur gehört hatte und dann auf Lateinisch wiedergeben wollte.
Aus dieser Notiz des Sueton wird deutlich, dass schon in den Vierzigerjahren, also weniger als zwanzig Jahre nach Kreuzigung und Auferstehung Jesu, innerhalb der jüdischen Bevölkerung