Die zunehmende Achtsamkeit bei der Verwendung der Bildsprache eröffnet mir neue Wege des persönlichen Ausdrucks, selbst wenn ich niemals verstanden werden sollte. Schließlich ist das Verstehen nicht die einzige Möglichkeit, etwas zu erfahren. Der Maler Kandinsky beispielsweise hat nicht gemalt, um verstanden, sondern um erfahren zu werden. Er hat gewissermaßen Musik gemalt. Als ich davon gehört hatte, hat es etwas in mir ausgelöst, das mir die Freiheit gab, große Bereiche der Kunst an mich heranzulassen, die ich bisher abgeschrieben hatte. Vom Wein muss man schließlich auch nicht viel verstehen, um ihn zu erfahren. Es hilft zwar, ist aber nicht unbedingt nötig. Um die Kraft von Wagners Walkürenritt zu spüren, muss man ihn auch nicht verstehen. Von dem, was Van Morrison singt, verstehe ich auch nur die Hälfte und doch verehre ich seine Musik. Die Anteile, die ich nicht verstehe, fülle ich selbst aus. Und deshalb ist es so, dass diejenigen, die unsere Absichten und Bildaussagen nicht vollständig erfassen, ganz gleich, ob wir die Bildsprache auf geniale Weise einsetzen oder nicht, unsere Werke erleben können. Doch ohne Anerkennung einer allgemeinen Sprache der Fotografie bin ich mir nicht sicher, ob wir Hoffnung auf mehr haben können, als nur mit der Kamera herumzuwedeln und zufällig abzudrücken, geschweige denn etwas Bedeutsames und Menschliches mit ihr hervorzubringen.
Camogli, Italien, 2010
Venedig, Italien, 2010
Venedig, Italien, 2015
Venedig, Italien, 2015
Was ein Foto vonin eins über macht, ist die Interpretation – unter Einbeziehung aller technischen Möglichkeiten, der Bildsprache und des Appells an das Gefühl.
Die Bereitschaft zur Interpretation
Im vorigen Essay ging es um die Bildsprache an sich; in diesem geht es darum, überhaupt etwas zu sagen, den Mut zu einer eigenen Meinung aufzubringen und Fragen aufzuwerfen.
Die Annahme, dass die Fotografie uns ein ihr eigenes Arsenal an Ausdrucksmöglichkeiten bietet, ist, ohne diese auch anzuwenden, bedeutungslos. Ohne menschliches Herz und Verstand, die etwas mitteilen wollen, und ohne die Bereitschaft, mit Entscheidungen Risiken einzugehen oder etwas Wichtiges ausdrücken zu wollen, kann keine Sprache der Welt etwas ausrichten. Leider ist die Fotografie schon sehr früh in ihrer Geschichte mit der Eigenschaft belegt worden, untrüglich zu sein, mit der Erwartung, dass die Kamera niemals lüge. Dies ist insofern unglücklich, da der Fotografie auf diese Weise eine Objektivität unterstellt wird, die sie niemals hatte. Da wir schließlich selbst auch daran glaubten, vergaßen wir die Verantwortung für das zu übernehmen, was unsere Fotos über das reine Handwerk zur Kunst erheben kann: Entscheidungen, Interpretation. Es ist die Interpretation infolge der vielen Entscheidungen, die wir bei jedem einzelnen Bild treffen müssen, die uns ermöglicht, das auszudrücken, was wir sagen wollen.
Wenn ich mit anderen über die Aussage unserer Fotos spreche, spüre ich immer bei denen eine gewisse Anspannung, die mit der Vorstellung Schwierigkeiten haben, dass wir mit der Fotografie Kunst betreiben (oder betreiben können). Derart zurückhaltend zu sein bei der Vorstellung, Kunst zu produzieren oder irgendetwas ausdrücken zu wollen, ist nicht gerade hilfreich. Wir können Kunst produzieren und es auch so nennen, ohne damit gleichzeitig zu sagen, dass sie hervorragend oder überhaupt gut sei. Wir können durch die Kunst Dinge zum Ausdruck bringen, die weder besonders klug noch weltbewegend sind. Seit wann soll es nicht genügen, einen einfachen Moment zwischen Mutter und Kind visuell darzustellen und damit zum Ausdruck zu bringen, dass dies schön oder menschlich sei? Wir drücken es vielleicht nicht immer elegant aus, sind ungeschickt in der Wahl der Mittel und verfallen in Klischees, und trotzdem bleibt es Kunst und kann etwas aussagen.
Wenn ich Sie also ermutige, Kunst zu machen und damit etwas zum Ausdruck zu bringen, sage ich damit nicht, dass es gute Kunst sein müsse oder sonst keine. So ist es nicht. Wir machen Kunst. Wir versuchen, visuell Gedichte zu verfassen, und dabei mag vielleicht zunächst nur die schlimmste Prosa herauskommen. Doch je mehr wir selbst schreiben, uns die Werke anderer Poeten erschließen, die dies schon viel länger betreiben, und auf diese Weise unser Vokabular erweitern, desto besser werden auch unsere Gedichte. Und tatsächlich werden eines Tages einige von ihnen hervorragend sein. Dies werden sie aber durch das stete Bemühen, sich besser auszudrücken. Unsere Arbeiten haben sich noch nie verbessert, indem wir herumsaßen und Däumchen drehten oder indem wir darauf beharrten, dass wir nichts zu sagen hätten.
Wenn Sie ansprechendere Fotos machen wollen, müssen Sie die Vorstellung akzeptieren, dass jedes absichtsvoll entstandene Foto ein Akt der Interpretation ist und die Verantwortlichkeit der Entscheidungen zur bestmöglichen Interpretation des Motivs bei einem selbst liegt. Die Kamera kann dies nicht für uns übernehmen. Wir müssen zur Interpretation willig sein. Das vor uns liegende Motiv mag für uns persönlich eine Bedeutung haben, doch es bleibt unsere Aufgabe, den besten und überzeugendsten Weg zu finden, diese Bedeutung zu vermitteln. Die kreative Fotografie ist ein zutiefst subjektives Unterfangen. Ich würde sogar so weit gehen, dass Fotojournalismus und forensische Fotografie sehr viel subjektiver sind, als wir vermeintlich glauben. Dies soll nicht als Kritik verstanden werden, sondern dem Fotografen eine größere Rolle der Verantwortlichkeit für die aufrichtige Interpretation zukommen lassen.
Diese Sichtweise eröffnet viele Freiheiten. Das Wissen, dass jede Entscheidung unsere Interpretation des Motivs und somit dessen Wahrnehmung beeinflusst (wenn auch nicht kontrolliert), gibt uns reichlich Spielraum. Wir können mit der Perspektive arbeiten und schauen, wie die Kameraposition die Beziehungen der Bildelemente untereinander verändert und wie man folglich über sie denkt. Wir können in einem bestimmten Moment auslösen und nicht in einem anderen, was wiederum einen Akt der Interpretation darstellt, der die Bedeutung des Bildes verändert. So geht es immer weiter: die Wahl von Blende, Brennweite, Verschlusszeit, Bildausschnitt – alles hat Einfluss darauf, wie das Foto gelesen wird. Diese Freiheiten auszukosten und die Verantwortlichkeit über diese Entscheidungen anzunehmen, bestimmt, wie kreativ wir auf dem Weg zum finalen Bild sind.
Wenn es stimmt, dass mit dem Grad der Freiheit auch der der Verantwortung wächst, können wir nachvollziehen, warum dies manchen von uns so schwer fällt. Mit der Verantwortung meine ich die, das Foto und seine Betrachter bewusst in Verbindung treten zu lassen. Dies mag auch erklären, warum viele unserer Fotos nur uns selbst etwas sagen. Wenn ich ein Foto mache, sind nur ich, meine Kamera und die Dinge dabei, auf die mein Blick fällt. Darum herum sind noch Tausende von Gerüchen und Geräuschen und andere Geschehnisse, die meine Umwelt darstellen, aus dem ich mein Motiv pflücke. Nicht zu wissen, was wir sagen wollen, oder der Mangel an Bereitschaft zur Entscheidung, was die Kamera für uns in zwei Dimensionen umsetzen soll, führt in der Regel dazu, dass am Ende viel mehr auf dem Bild ist als nötig und der Bildeindruck dadurch geschmälert wird. Wenn wir dagegen zu viel weglassen, schließen wir den Kontext aus, der dem Betrachter oftmals den einzigen Hinweis zum Verständnis des Bildes liefert.
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