Allerdings gibt es da einen Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Selbstzentriertheit. Bei Letzterem kommen nur egozentrische Bilder heraus, die niemanden interessieren. Ein Bewusstsein von sich selbst lässt uns reflektieren, eigene Fragen bedenken und die Gründe unserer Präferenzen hinterfragen. Dies kann uns zu besseren Bildern führen und damit meine ich solche, die sowohl authentischer sind als auch die Themen und Inhalte unserer Fotos besser transportieren.
Es kann sein, das dieses Bewusstsein von sich selbst nicht der einzige Weg ist, zu authentischen, aussagekräftigen Bildern zu kommen. Es mag einige Fotografen geben, denen dies von Natur aus so intuitiv gelingt, dass sie sich über ihr Sehen oder wie sie Dinge in einem Bild ausdrücken wollen, keine Gedanken machen müssen. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie keine Vorstellungskraft besäßen. Ich glaube jedoch, dass solche Menschen, genau wie Heinzelmännchen, seltener anzutreffen sind als wir glauben möchten. Und, mal ganz ehrlich, wenn Sie dieses Buch lesen, gehören Sie vermutlich nicht zu dieser Gattung, weil Sie sonst lieber draußen eben diese Bilder machen würden, statt über etwas zu lesen, das Ihnen keinen weiteren Nutzen bringt. Der Rest von uns wird mit der Muse ringen, was ich umso mehr genieße, je mehr ich mich darauf einlasse.
Sie können sehen. Wir alle können es. Doch was fast noch mehr zählt als die Befähigung, ist die Bereitschaft, mit dem Sehen Schritt zu halten, sich auf dessen Wandel im Verlauf der persönlichen Entwicklung einzulassen und sich auf diese Weise neue Möglichkeiten des visuellen Ausdrucks zu erschließen. Wer die Dinge eher pragmatisch angeht, hadert vielleicht mit dieser Vorstellung. Doch auch wenn Sie sich an dieser Stelle lediglich fragen können, was Sie versuchen zu sagen, ist das bereits ein guter Ausgangspunkt. Ein anderer sehr guter Einstieg wäre: »Worum geht es in diesem Bild und was wäre die beste Möglichkeit (die authentischste, interessanteste), dies auszudrücken?«
Wenn Sie sich in keiner dieser Fragen wiederfinden, ist es vielleicht eher diese hier: »Wie soll sich dieses Bild anfühlen?« Nochmals, um diese und noch weitere Fragen geht es.
Die Welt braucht nicht noch mehr Bilder; sie wird bereits mit Schnappschüssen überschüttet, wogegen im Prinzip nichts einzuwenden ist, da sie schließlich irgendjemandem irgendwas bedeuten. Doch wenn Ihnen Ihre Bilder mehr bedeuten sollen und andere, die sie betrachten, mehr ansprechen sollen, sind Sie auf der Suche nach tiefergehenden, zielgerichteteren Fotos. Es sollte mich doch sehr wundern, sollten Sie dies erreichen, ohne sich stets Gedanken darüber zu machen, was Sie mit diesen Fotos aussagen wollen.
Venedig, Italien, 2016
Venedig, Italien, 2016
Florenz, Italien, 2016
Wenn Ihnen Ihre Bilder mehr bedeuten sollen und andere, die sie betrachten, mehr ansprechen sollen, sind Sie auf der Suche nach tiefergehenden, zielgerichteteren Fotos.
Diese Reise wird für mich kein Ende nehmen. Ich werde niemals den Punkt erreichen, an dem andere mir nichts mehr beibringen können.
Achtsamkeit in der Sprache
Garry Winogrand sagte einmal: »Ich habe in keinem meiner Bilder etwas zu sagen.« Das kann sein und ich kenne viele Fotografen, die genauso denken. Doch keinen Plan zu haben und angeblich nichts zu sagen zu haben, lässt die Bilder keineswegs verstummen. Das gilt ohnehin nur, wenn Sie davon ausgehen, dass Fotografen wie Gary Winogrand wirklich nichts zu sagen hätten, wovon ich persönlich nicht überzeugt bin. Zumindest sagen unsere Fotos immer so etwas wie: »Schau Dir das an.« Wir stellen einen bestimmten Moment heraus und durch eine von unzähligen Kombinationen von Verschlusszeiten, Blenden, Brennweiten, Perspektiven sagen wir etwas über diesen Moment und wie wir ihn gesehen haben aus. Da wir ihn schließlich nicht nur mit den Augen, sondern auch mit unserem Verstand wahrgenommen haben, scheint mir, dass es immer darum geht, wie wir diesen Moment erfahren, was wir über ihn gedacht haben. Jede Entscheidung, die wir bei jedem einzelnen Foto getroffen haben, hat eine Bedeutung und wird vom Betrachter auf die eine oder andere Weise interpretiert.
Ich empfinde tiefsten Respekt für Gary Winogrand als Fotografen, doch für mich ist sein Ausspruch eine falsche Bescheidenheit. Natürlich haben seine Bilder eine Aussage, denn ganz gleich, ob wir wollen oder nicht, werden unsere und seine Bilder von anderen interpretiert. Die Fotografie ist wie die Musik eine Sprache, unpräzise zwar, doch spricht sie uns oft stark an. Während ich diese Zeilen verfasse, tobt gerade ein Disput über die Arbeiten von Steve McCurry, dessen vielgeschätzte Bilder sich zum Teil als manipuliert herausgestellt haben – sei es dadurch, dass sie gestellt waren, oder durch Bildbearbeitung. Unter den vorwurfsvollen Begriffen fanden sich »Irreführung« und »Manipulation«. Diese sind Begriffe aus dem Gebiet Kommunikation und Sprachgebrauch.
Der Fotograf, der seinem Publikum mit Wertschätzung entgegentritt und seine Bildsprache achtsam einsetzt, erschafft eher Bilder, die stärker und menschlicher wirken. Wie wird die eine Linienführung im Vergleich zu der anderen im Foto wahrgenommen? Wird sie den Blick aus dem Bild tragen oder die Bildelemente verknüpfen? Wie leitet eine Farbe das Auge und wie beeinflusst eine bestimmte Farbgebung die Bildstimmung? Wie zieht ein Weitwinkelobjektiv, das ganz nah am Geschehen ist, den Betrachter heran, sodass er mittendrin in der Szenerie ist? Wie wirkt sich im Gegensatz dazu eine lange Brennweite aus? Tritt durch eine große Blendenöffnung und entsprechend unscharfe Bildbereiche ein Bildelement derart in den Hintergrund, dass die Aufmerksamkeit von ihm weg auf etwas anderes gelenkt wird? Wie ist die Bildaussage, wenn auf die Braut scharfgestellt und der Bräutigam unscharf dargestellt ist? Was drücken wir damit aus, wenn wir auf unser Motiv hinabschauen, statt ihm auf Augenhöhe zu begegnen?
Jede dieser Entscheidungen zieht eine entsprechende Wirkung nach sich. Diesen Umstand zu ignorieren und diese Zusammenhänge nicht zu studieren bedeutet, die erstaunliche Fähigkeit der Fotografie, durch Licht und Zeit unsere Geschichten vermitteln zu können, aus der Hand zu geben. Denn ganz gleich, ob wir es tun oder nicht, interpretiert werden unsere Bilder so oder so.
In unserem Handwerk gibt es scheinbar endlose Möglichkeiten, die sich allesamt darauf auswirken, wie unsere Arbeiten gelesen oder wahrgenommen werden. Aus meinem Gedächtnis heraus gehören zu diesen Möglichkeiten die Ausrichtung des Bildausschnitts, das Seitenverhältnis, die Größenverhältnisse im Bild, die von uns eingeschlossenen Bildelemente und deren Beziehungen untereinander, das, was wir weglassen, der Moment des Auslösens, die Entscheidung über Farbe oder SchwarzWeiß, worauf wir fokussieren und wie groß die Schärfentiefe ausfällt sowie die Wahl unserer Verschlusszeit und deren Wirkung auf die Wahrnehmung der Zeit. Wir wählen unsere Perspektive und ordnen die Linienführung und Bildelemente so an, wie wir es wünschen, und es gibt noch sehr viel mehr weitere Möglichkeiten. Jede dieser schier endlosen Möglichkeiten und somit unterschiedlichen Fotos sagt das eine oder andere aus.
Eine der angenehmen Eigenschaften der visuellen Künste wie der Fotografie ist, dass es keine Geheimnisse gibt. Bis auf ganz wenige Ausnahmen ist alles sichtbar und erlernbar. Bei mir zuhause biegen sich die Bücherregale mit Fotobüchern, und jede Woche kann es passieren, dass gut 20 Kilo davon neu angeliefert werden, sodass meine Frau sich langsam gezwungen sieht, dem Einhalt zu gebieten. Die beiden besten Wege, die Fotografie zu erlernen, sind erstens, selber Fotos zu machen und sie zu studieren, und zweitens, die Werke anderer Fotografen zu studieren.
In besagten Regalen finden sich Bände von Sebastião Salgado, Josef Koudelka, Richard Avedon, Vivian Maier, Dorothea Lange, Diane Arbus, Gordon Parks, Helmut Newton, Yousuf Karsh, Elliott Erwitt, Henri Cartier-Bresson und vielen anderen, denen ich persönlich niemals begegnet bin, aber von denen ich so viel gelernt habe. Ich preise deren Arbeiten, analysiere sie und nehme etwas davon mit. Warum funktioniert dieses eine Bild? Warum empfinde ich dieses Bild und sein Thema genau so? Warum hatte der Fotograf diesen bestimmten Blickwinkel, diese Linienführung,