Das Streben nach Meisterschaft
Wir sind es, die das Menschsein, die Vorstellungskraft und die Poesie in unsere Fotos legen.
Einleitung
Während ich über die ersten Wörter für den Anfang dieses Buchs nachdenke, schaue ich mit einem Kaffee in der Hand auf 20 Kameras in meinem Büro. Einige der analogen Modelle auf dem Regal sind bereits 50 Jahre alt, lassen Erinnerungen an meine Anfänge in dieser Kunst hochkommen, werden aber heute viel zu selten benutzt. Darunter sind verlässliche Arbeitstiere, einige sind sogar für den Unterwassereinsatz konzipiert. Meine neueste Kamera kann fliegen und eine andere ist eigentlich ein Telefon. Je nachdem kommen bei mir im Jahr so etwa 100.000 Aufnahmen zusammen. Einige von ihnen sind gut, die meisten sind es nicht. Wenn man den Zahlen aus dem Internet trauen darf, so wurden im Jahr 2014 pro Tag 1,8 Milliarden Bilder in sozialen Medien wie Instagram und Facebook hochgeladen. Das macht 657 Milliarden Fotos pro Jahr, die aus einer ebenfalls erstaunlichen Anzahl von Kameras stammten. Dieser Umstand sagt mir zweierlei. Erstens: Es gibt ein unstillbares Verlangen nach dem Machen und Weitergeben von Bildern. Zweitens: Die nötigen Kenntnisse, eine komplizierte Kamera bedienen zu können, sind kein Hinderungsgrund mehr, diese Bilder auch erzeugen zu können.
Unter diesen hunderttausend Bildern, die ich in einem Jahr mache, sind nach meinem Dafürhalten nur ein Bruchteil als Erfolg zu bewerten. Der Rest ist ungenügend. Das liegt meist nicht daran, dass sie unscharf oder nicht korrekt belichtet wären; die Kamera nimmt mir vieles ab, was mir selbst nicht besser gelänge. Die Mehrzahl meiner Bilder ist ungenügend, weil ihnen die Seele fehlt. Wenn meine Bilder allerdings doch so funktionieren, wie ich mir das vorgestellt hatte, ist das umgekehrt auch nicht das Verdienst der Kamera.
Mit zunehmender Anzahl der weltweit täglich fotografierten und geteilten Bilder nimmt auch das so genannte Rauschen zu. Und je mehr es rauscht, desto schwerer wird man gehört. Diesem Rauschen mit noch mehr Rauschen zu begegnen, macht die Sache nicht besser. Die Antwort kann also nicht in noch mehr Fotos und damit noch mehr Rauschen liegen. Die Antwort kann nur in mehr Signal liegen. Die Antwort besteht also aus Fotos, die Verbindungen herstellen, die sich von Banalen, nur auf sich selbst bezogenen Selfies abheben. Die Antwort ist mehr Menschlichkeit, mehr Seele.
Sollen also die Kamera und die aus ihr stammenden Fotos diese Seele haben, so muss sie von uns kommen. Wir sind es, die diese Menschlichkeit, die Vorstellungskraft und die Poesie in unsere Fotos legen.
Ich verehre das Wunderwerk, das die Kamera darstellt. Schon als 15-Jähriger, der das Bild in der eigenen Dunkelkammer aus dem Nichts hat entstehen sehen, war ich von diesem Wunder fasziniert. Doch so wundersam das Zusammenwirken von Kamera, Objektiv und der jeweiligen Einstellungen auch sein mag, dieses Buch reduziert ihre Rolle auf den Status von stummen Dienern beim kreativen Tun. Meine Hoffnung besteht darin, mit diesem Buch den Einzelnen zu fördern, über die Anzahl der Megapixel, die Schärfe und die Freude über die neue Ausrüstung hinauszublicken und nach etwas Tieferem und zugegebenermaßen viel Schwierigerem zu suchen. Die Eigenschaften der neuesten Kamera oder des Objektivs fotografisch zu demonstrieren, ist sehr einfach. Viel schwerer ist es, im Foto seine Seele zu zeigen, Risiken einzugehen, etwas zu schaffen, das unsere Vorstellungskraft und Menschlichkeit zutage fördert.
Der Grund, warum ich all das auf mich nehme, besteht darin, dass ich die Fotografie mit all ihren Möglichkeiten liebe: Geschichten zu erzählen, die Fantasie anzuregen, Empathie in den Herzen auszulösen und Veränderungen zu bewirken. Ich glaube immer mehr, dass man mit den Rohstoffen Zeit und Licht mit seiner Kamera die Welt mit offeneren Augen sehen und mit ihr Momente festhalten und mit anderen teilen kann, die ansonsten in der Vielzahl der Eindrücke des Lebens untergehen würden. Wie gesagt, ist die Kamera bereits an sich ein Wunder, doch in der Hand des Poeten, des Geschichtenerzählers, des Veränderungswilligen oder des frustrierten Künstlers kann sie etwas Lebendiges erschaffen, das an unsere Menschlichkeit appelliert.
Ein Foto kann ein hervorragendes Mittel zur Schaffung von Verbindung und Kommunikation sein. Doch dafür müssen wir zunächst auch etwas zu sagen haben. Selbst wenn es nur für ein eiliges »Eh, schau Dir das mal an!« reicht, kann ein Foto auf Hunderte von Arten sagen: »Schau Dir das mal an!« Einige dieser vielen Möglichkeiten verlangen gewiss eine Portion technisches Verständnis, und wie ich später in diesem Buch noch ausführen werde, hat die Technik ihren Platz. Doch die meisten guten Fotos beruhen auf weit weniger technischen Aspekten, sondern darauf, wo wir beim Fotografieren stehen, in welchem Moment wir auslösen, was wir ins Bild nehmen und was nicht. Die besten gründen eher darauf, dass der Fotograf etwas gesehen hat, das der Rest von uns übersehen hat. Um solche Fotos zu machen, muss man aufgeschlossen bei der Sache sein und die Welt auf eine unnachahmliche Weise sehen.
Meine Bücherregale sind gefüllt mit Fotobüchern. Einige um mich herum stammen von Sebastião Salgado, Vincent Munier, Dorothea Lange, Vivian Maier, Edward Weston, Ara Güler und Gordon Parks, und von jedem Foto dieser Meister kann ich aufrichtig behaupten, dass ich es auch hätte machen können. Habe ich aber nicht. Ich bin nicht dabei gewesen. Ich habe es nicht gesehen. Und selbst wenn ich dort gewesen wäre, hätte ich es bestimmt anders gesehen. Auch wenn unsere Augen gleich gebaut sind, so unterscheiden sich unsere Gehirne, mit denen wir unsere Umwelt wahrnehmen, derart deutlich, dass selbst wir vor dem gleichen Motiv nebeneinanderstehend es unterschiedlich gesehen und fotografiert hätten. Die eigentlich Wahrheit lautet also: Nein und nochmals nein, ich hätte diese Fotos nicht machen können.
Die Werke der einstigen und jetzigen Meister der Fotografie haben kaum etwas mit deren verwendeten Kameras zu tun. In manchen Fällen ist das neben mir liegende iPhone den Kameras aus der Zeit dieser Fotografen weit überlegen. Nein, die von ihnen erzeugten Bilder entsprangen den Künstlern selbst – einzigartigen Menschen mit einzigartigen Sichtweisen und Gelegenheiten gepaart mit dem Mut, diese Fotos überhaupt zu machen, Fotos, in die sie ihre Seele haben einfließen lassen.
Viele Fotografen wünschen sich nichts mehr, als »bessere Fotos« zu machen, und ich glaube, dass dieses Buch diesem Anliegen zu Ehren entstanden ist. Doch viele Fotografen halten niemals inne, um sich zu fragen, was bei ihren eigenen Fotos nun eigentlich »besser« oder »gut« heißt. Die Fotowettbewerbe, die zu den Grundfesten von Fotoclubs und -verbänden gehören, nähren die Vorstellung, dass diese »besseren« Fotos anhand von bestimmte Kriterien punktemäßig bemessen werden könnten, so, als ob man die Seele bemessen könnte. Das können wir besser machen. Dieses Buch ist also ein weiterer Versuch herauszufinden, was es bedeutet, bessere Fotos zu machen. Wie bei allem anderen, das ich geschrieben habe, philosophiere ich zwar gern und viel, doch soll auch dieses Buch im besten Sinne pragmatisch sein. Wenn die hier vorgebrachten Ideen am Ende nicht noch mehr Fragen aufwerfen, bringen sie niemanden weiter. Dieses Buch ist allerdings keine Marschroute zu besagten besseren Fotos, sondern mehr ein Austausch darüber, was den Fotografen besser macht. Wir haben fast 200 Jahre damit verbracht, die Kameras von heute zu erfinden. Sie sind sehr weit entwickelt. Jetzt ist es an der Zeit, sich wirklich um das zu kümmern, was bessere Fotos bringt, den Fotografen selbst.
Über die Kunst
Es wird bei mir viel um Kunst gehen. Dabei betrachte ich mich selbst und andere als Künstler. Das meine ich in keiner Weise wertend und ich werde diesen Status auch nicht glorifizieren. Ohne eine klare Definition des Kunstbegriffs verfällt man nur allzu leicht in Diskussionen, was Kunst ist und was nicht. Viele Dinge sind mir egal; so auch die Definition von »Kunst«.
Auf jeden Fall möchte ich Kunst erschaffen, sie erleben. Ich möchte künstlerisch leben. Ich möchte aber nicht darüber diskutieren. Ich habe mich daher nie gefragt, ob etwas Bestimmtes Kunst sei. Stattdessen frage ich mich immer, ob es beseelt ist, ob es lebt. Kann ich darin etwas vom Künstler erkennen? Bewegt es mich? Regt