»Er hatte … Seine Pupillen, sie waren doch weiß!«, stammelte ich und versuchte die Schuld von mir zu schieben, während der Mann unter mir gurgelnd die Augen öffnete, die blau waren. Leuchtend blaue Iriden und schwarze Pupillen. Keine Spur von Weiß.
»Es muss der Mond gewesen sein. Seine Augen sind so hell, da passiert so eine Verwechslung schon mal«, antwortete mir Lucy rational, ehe sie sich auf einem Knie abstützte und eine Hand um den Schaft legte.
»Was tust du da?«, rief ich mit Schrecken und viel zu laut. »Er ist ein Mensch! Wir müssen ihm helfen!« Ich wich dem Blick des Mannes aus. Er schien in dem Alter meiner Tante zu sein, doch sie war unberührt von der Tatsache, dass er in einem anderen Leben ihr Freund hätte sein können.
»Ihm ist nicht mehr zu helfen. Sieh nur, seine Lungen sind bereits voller Blut. Er ertrinkt.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf seinen Mund, aus dem in Wellen Blut hervorquoll. Der Mann zuckte unkontrolliert. »Willst du, dass er weiter leidet?«
Tränen hatten sich in meinen Augen gesammelt. Was ich wollte? Ich wollte das hier ungeschehen machen. Ich wollte in mein Bett. Ich wollte …
»Wir haben keine Zeit für deine Heulepisoden, Alison«, sagte sie barsch. »Also?«
Ich schüttelte den Kopf, unfähig etwas zu sagen. Meine Hände waren zu Fäusten geballt.
»Was? Drücke dich aus, Alison, wir sind nicht in einem Stummfilm.« Ich wusste zwar nicht, was ein Stummfilm war, aber ich erkannte den Sinn ihrer Forderung.
»Ich will nicht, dass er leidet«, sagte ich leise.
»Gut, dann tu was dagegen.« Ohne Vorwarnung zog sie den Bolzen heraus, als würde sie mir keine Zeit mehr geben, meine Entscheidung zu überdenken. Der Mann schrie auf, doch der Schrei endete in einem Gurgeln. Sein ganzer Körper zitterte, als würde er unvorstellbare Schmerzen erleiden. Panik durchfuhr mich, doch anstatt mich umzudrehen und fortzulaufen, kniete ich nieder, zog mein Waidblatt, eine Art großes Jagdmesser mit abgeschrägter Spitze, aus der Scheide und stieß ihm die Spitze zielsicher ins Herz. Sein Körper erschlaffte. Die Augen wurden glasig.
Manchmal hasste ich meine Tante mit jeder Faser meines Herzens. Doch jedes Mal, wenn sie in der Vergangenheit diesen Hass in meinen Augen gesehen hatte, hatte sich eine verwirrende Zufriedenheit in ihr Gesicht geschlichen. Als ob meine Ausbildung allein darauf ausgerichtet war, sie zu verabscheuen.
»Sehr gut. Nun …«, setzte sie an, bevor wir gestört wurden. Ein Junge, ungefähr in meinem Alter, stürzte aus dem Nichts hervor, schubste mich nach hinten und beugte sich über den nunmehr leblosen Körper.
»Dad!«, schluchzte er so laut und herzzerreißend, dass es mir einen Schauder über den Rücken jagte.
Ich saß auf dem sandigen Asphalt und beobachtete mit Entsetzen die Szene, die sich vor mir abspielte. Die kleinen Steinchen auf dem Boden schrammten meine Ellbogen, mit denen ich mich nach seiner halbherzigen Attacke aufgestützt hatte, bei jeder noch so kleinen Bewegung weiter auf, doch ich spürte keinen Schmerz.
Ich hatte jemandes Vater getötet. Ich war eine Mörderin.
»Alison!«, rief mich Lucy zur Besinnung. Sie packte mich grob an meinem Oberarm und zerrte mich hoch, um mich wegzubringen.
Es vergingen mehrere Sekunden, in denen ich nur den Jungen sah, der die Leiche seines Vaters umklammerte, als würde er dessen Seele zwingen wollen, im Körper zu verbleiben. Es zerriss mich innerlich.
»Wir können ihn nicht zurücklassen! Er ist doch ganz allein.«
»Glaub mir, das Letzte, was er will, ist, mit der Mörderin seines Vaters zusammen zu sein«, erwiderte Lucy kühl. Daraufhin bedurfte es nicht mehr ihrer Gewalt, um mich fortzuzerren. Ihre Worte hatten den gewünschten Effekt, doch Lucy war noch nicht fertig. »Sollte mich jemand töten, warte nicht auf mich und kehre nicht zurück. Ich bin nicht deine Schwäche. Du hast keine Schwäche, Alison. Sei auf der Hut und lasse dich nie von deinen Emotionen beherrschen. Du brauchst weder Freunde noch Familie, du brauchst nur …« Sie stockte und bevor ich mir einen Reim auf ihre Worte machen konnte, wechselte sie das Thema und ihre Stimme wurde eine Nuance sanfter. Wir ließen die Hauptstraße hinter uns und bogen in eine enger geschnittene Gasse ein. »Fehler passieren nun mal. In dieser Welt sind sie auf der einen Seite schwerwiegender und auf der anderen Seite einfacher.«
»Was meinst du damit?« Ich zitterte am ganzen Leib. Es fiel mir leichter, mich auf das Gespräch zu konzentrieren, als an das Geschehene zu denken. Es würde mich zerstören. Endgültig.
»Die Fehler, die wir nun begehen, wären früher ein Kapitalverbrechen gewesen. Heute aber sind es Fehler, die uns unser Überleben ermöglichen«, weihte sie mich in ihre Weisheit ein, von der ich nicht wusste, was ich von ihr halten sollte. »Du musst lernen loszulassen, Alison.«
»Was soll ich loslassen?« Stirnrunzelnd blieb ich neben ihr stehen. Wir hatten den Stadtrand erreicht und blickten nun die Straße entlang, die sich in die Dunkelheit davonschlängelte. Links und rechts schlossen sich weite vernachlässigte Felder an.
»Deine Menschlichkeit. Deine Gefühle. Dich selbst.« Sie sah mich genau an. »Du bist nicht mehr Alison Talbot.«
»Wer bin ich dann?« Meine Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Ich spürte, dass dies die Antwort war, auf die ich die letzten zwei Jahre so sehnlichst gewartet hatte.
»Du bist Rache.«
»Ich bin …« – Rache. Es war eine unbegreifliche Offenbarung. Ich konnte sie nicht aussprechen. Zu groß die Überraschung. Zu frisch die Erkenntnis.
»Es gibt etwas, das ich dir zeigen muss, und ich glaube, ich habe kein Recht, es dir länger vorzuenthalten. Es ist deine Bestimmung.« Sie presste ihre Lippen einen Moment zusammen, als würde sie mit sich ringen. »Komm mit. Wir sollten hier nicht derart angreifbar stehen bleiben.«
Wir betraten das nächstgelegene Einfamilienhaus, sicherten es ab, damit wir von niemandem überrascht werden würden, und fanden uns dann in dem verstaubten Wohnzimmer wieder. Keine zerstörten Möbel.
In einem der Sessel sitzend rubbelte ich mit einem Tuch vergeblich das Blut von meinen Händen, bis ich es aufgab und die Verfärbung meiner Haut stattdessen nüchtern betrachtete. Wenn ich Rache war, dann war es doch nur rechtens, Blut an meinen Händen zu haben. Das war meine Bestimmung.
»Sieh her«, bat mich Lucy mit einer so sanften Stimme, wie ich sie nur einmal, kurz nach meinem Auftauchen bei ihr, gehört hatte. Die meiste Zeit hatte sie mich mit ihrer schroffen Stimme angesprochen, die sie präzise zu nutzen wusste. Als wäre sie früher einmal in der Armee gewesen.
Ich tat wie geheißen, hob meinen Blick und betrachtete ihren flachen, nackten Bauch. Sie hatte sich offensichtlich ihrer Jacke und des Pullovers entledigt, um sich lediglich in ihrem BH bekleidet vor mich hinzustellen. Tante Lucy deutete mit ihrem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle. Eine kleine Erhebung war zu sehen, als wäre dort ein Knochen falsch zusammengewachsen.
»Das ist der Schlüssel, Alison«, flüsterte Lucy voller Ehrfurcht. »Der Schlüssel, um das Portal zur Welt der Dämonen zu öffnen.«
Verblüfft öffnete ich den Mund und versuchte unter der Wölbung die Form eines Schlüssels auszumachen. Unmöglich. Hatte Lucy nun vollends den Verstand verloren? Mir war schon immer klar gewesen, dass sie sehr speziell war, aber das hier? Das überstieg alles bei Weitem.
»Die Tore, das Portal … sie können nur mit dem Schlüssel und dem Schloss geöffnet werden. Beide zusammen haben die Macht dazu. 1986 wurden das letzte Mal die Tore geöffnet und seitdem galt der Schlüssel als verloren. Es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis er wiedergefunden wurde. Fünfzehn Jahre danach konnten die Portale endlich wieder geschlossen werden. Der Schlüssel wurde mir von der vorigen Trägerin anvertraut.« Ich hing an jedem einzelnen Wort, unabhängig davon, ob ich diese Geschichte glauben sollte oder nicht. Es war faszinierend und angsteinflößend zugleich. »Ich muss den Schlüssel beschützen, während er gleichzeitig mich beschützt.«
»Wie