»Trödel nicht rum, Alison!«, wies mich Lucy streng zurecht. Sie hatte sich bereits zur nächsten Hausecke aufgemacht, während ich noch gedankenverloren ins Nichts gestarrt hatte.
Wir befanden uns in einer verlassenen Kleinstadt mit einladenden Holzhäusern und überwucherten Gärten. Es gab eine einzige Einkaufsstraße und der näherten wir uns.
Ich schüttelte den Kopf, um ihn von diesen trostlosen Gedanken zu befreien, verspürte aber nur einen geringen Erfolg. Seit meinem Geschenk zu meinem vierzehnten Geburtstag vor einer Woche war nichts mehr, wie es einmal war. Lucy hatte mich, wie so oft vorher, zu einer Jagd mitgenommen und ich hatte das allererste Mal einen Schattendämon getötet. Natürlich nicht allein. Lucy hatte ihn zuerst niedergestreckt, damit ich ihm gefahrlos den Todesstoß versetzen konnte. Im ersten Augenblick hatte ich gezögert. Es war so viel Blut geflossen und dieses Mal hatte ich es nicht nur aus der Ferne gesehen. Noch immer spürte ich den warmen Lebenssaft an meinen Händen.
»Alison!«, keifte Lucy ungehalten, die viel mehr Kraft in ihrer Stimme besaß, als man ihr bei der ersten Begegnung zutrauen würde. Körperlich glichen wir uns sehr, nachdem ich in den letzten Jahren meiner Ausbildung deutlich an Gewicht verloren hatte. Ich aber besaß gewisse Rundungen, die auch nach Monaten des Trainings nicht verschwinden würden. Sie waren vielleicht noch nicht sonderlich ausgeprägt, aber sie entwickelten sich zu Lucys deutlichem Leidwesen. Sie lag mir ständig damit in den Ohren, dass ich beten sollte, keinen großen Busen zu kriegen, der mich im Kampf behindern würde. In ihren Augen waren meine breiten Hüften schon ein Todesurteil.
»Ich komme ja schon«, zischte ich und schloss zu ihr auf, bevor sie einen prüfenden Blick auf die breite, asphaltierte Straße warf. Sie hatte mir mehrmals befohlen, auf Zeichen von Zivilisation zu achten, doch was ich auch tat, ich erreichte niemals ihr Level der Spurensuche. Sie hatte eine unheimliche Begabung dafür entwickelt. Manchmal fragte ich mich, ob sie in dieser Gegenwart mehr zu Hause war, als sie es in der Vergangenheit ohne Dämonen je gewesen war.
Meine Erinnerungen an die Zeit waren verschwommen, doch den abfälligen Ton meiner Mutter, mit dem sie damals über ihre verrückte Schwester gesprochen hatte, hatte ich nie vergessen. Eine Schwester, die niemals still sitzen konnte. Eine Schwester, die paranoid war und in allem eine Bedrohung sah. Es stellte sich heraus, dass Lucy die Einzige von uns gewesen war, die mit dem Einmarsch der Dämonen halbwegs zurechtgekommen war. Wie hätte es auch anders sein können? Sie hatte sich ein Leben lang darauf und auf jede andere Art von Bedrohung vorbereitet.
»Da vorne.« Sie deutete mit einer Hand nach links, wo ein zerbrochenes Schaufenster einen ungehinderten Blick auf den Laden dahinter bot. Das unbeleuchtete Schild verriet, dass es sich einst um einen Sportbekleidungsladen gehandelt haben musste.
»Was ist denn?«, murmelte ich unruhig auf der Stelle tretend. Mir war trotz der milden Temperaturen, die in Kalifornien herrschten, kalt, da ich nur einen dünnen Pullover trug. Zuvor hatte ich meine Lederjacke vergessen und ich war zu stolz gewesen, Lucy zur Umkehr zu bewegen. Sie hätte mich nur wieder getadelt, da sie schließlich nie etwas vergaß. Auch heute war sie bis an die Zähne bewaffnet und trug ihre übliche Kleidung. Eng anliegende Jeans, feste robuste Stiefel, einen Rollkragenpullover und ihre widerstandsfähige Synthetikjacke. Alles natürlich in einem dunklen Grau, um so gut wie möglich mit der Dunkelheit verschmelzen zu können.
»Sieh genau hin«, befahl sie mir, während sie an der Hauswand lehnte, um deren Ecke wir schauten, anstatt mir normal zu antworten. Ihr dickes rotbraunes Haar hatte sie zu einem festen Zopf in ihrem Nacken gebunden, sodass keine einzige Strähne in ihr faltenfreies Gesicht fiel. Sie wirkte zeitlos. Körperlich sah sie kaum aus wie die vierzig Jahre, die sie zählte, doch in meinen Augen wirkte sie oftmals wie ein Kind, das sich inmitten seines liebsten Spiels befand und vorhatte zu gewinnen.
Ich unterdrückte ein Seufzen, da ich dieses Verhalten bereits gewohnt war. Keine Reaktion meinerseits würde dies ändern. Also kniff ich die Augen zusammen und starrte tiefer in die Finsternis, bis ich den Schatten im Laden erkannte. Er bewegte sich langsam, behäbig gar, als würde er eine Last mit sich schleppen.
»Dämon?«, flüsterte ich leise. Mit der Erkenntnis begann mein Herz plötzlich so schnell zu pochen, dass ich kaum atmen konnte. Mir brach der Schweiß auf der Stirn aus, mein Herz pumpte Adrenalin durch meine Adern und die leicht abfällige Gleichgültigkeit, die mich zuvor noch beherrscht hatte, war wie weggewischt. So war es immer.
Während der Zeit zwischen der Jagd fühlte ich mich meist wie ein normaler Teenager, zumindest bezeichnete mich Lucy als einen. Ich nörgelte. Ich war unausstehlich. Ich wollte ein anderes Leben. Sobald wir uns aber in der Nähe von Gefahr, von Dämonen befanden, spürte ich die Veränderung in meinem Körper. Der Anflug von Gefahr rückte alles Unwichtige in den Hintergrund, sodass ich mich allein auf meine Umgebung konzentrieren konnte. Für mich existierte nichts mehr außer den Dämonen. Denn dafür war ich noch hier. Dafür lebte ich noch. Um ihn zu finden und zu töten. Den Mörder meiner Familie. Ja, ich wusste, dass es zwei Königsdämonen gewesen waren, aber in meinem Kopf existierte nur einer. Derjenige, der die Strippen gezogen hatte. Derjenige, der mein Leben allein deshalb verschont hatte, damit ich in Schmerz und Verzweiflung untergehen würde. Das war sein Versprechen an mich gewesen und ich hatte es nicht vergessen. Es war das, was mich antrieb.
»Bist du bereit?«, fragte mich Lucy, die nichts von meinem inneren Aufruhr mitbekommen hatte. Sie war so ruhig wie eh und je. Ich bewunderte sie für ihre mentale und körperliche Stärke, obwohl ich ihr das niemals sagen würde. Sie würde ein Kompliment nicht zu schätzen wissen und als verschwendeten Gebrauch von Luft und Stimmbänder abstempeln.
»Nimm die Armbrust. Du weißt, was du zu tun hast.«
Ich nickte ernst. Eisern. Die Armbrust, die bis gerade noch an einer Halterung an meinem Rücken befestigt gewesen war, wog schwer in meinen Händen, obwohl ich mittlerweile einige Muskeln aufgebaut hatte. Vielleicht lag es auch an der Schwere der Situation.
Ich überprüfte, ob der Bolzen richtig eingeklemmt war, ehe ich mich neben Lucy positionierte und den Lauf auf den Laden richtete, darauf wartend, dass sich der Schatten nach draußen bewegte.
Es geschah viel schneller, als ich angenommen hatte. Der Schatten kletterte aus dem zerbrochenen Schaufenster, anstatt die Tür zu benutzen.
Eine Schweißperle blieb in meinen Wimpern hängen. Ich blinzelte nicht. Dann sah ich das Gesicht des Mannes, weiße Pupillen blickten in unsere Richtung. Das reichte für mich aus, den Abzug zu drücken und den Bolzen fliegen zu lassen. Der Schatten hatte keine Chance, da sich die Spitze der Waffe erbarmungslos in seine Brust bohrte. Sein Herz hatte ich allerdings verfehlt, das war mir trotz der Entfernung bewusst. Der Bolzen war zu weit rechts eingeschlagen.
»Seine Lunge«, schnaubte Lucy missbilligend und ich wusste, ich würde mir später noch mehr anhören müssen. »Los.«
Der Schatten war auf seine Knie gefallen, konnte sich aber nicht lange aufrecht halten und kippte seitlich auf den harten Boden. Seine Hände umklammerten den Schaft, als würde er versuchen wollen, den Bolzen herauszuziehen.
Lucy und ich pirschten uns vorsichtig heran, immer in Erwartung, dass sich noch weitere Dämonen in der Nähe befanden und uns angriffen. Dieses Mal sollten wir Glück haben. Niemand anderes schloss sich unserer Gesellschaft an, als wir den sterbenden Dämon erreichten, der doch keiner war.
»Lucy?«, hauchte ich überwältigt von der Wahrheit, die sich erst allmählich an mich heranschlich. »Lucy …«
»Du konntest es nicht wissen …«
Jedes Mal,