Wir liefen schnell, aber wir blieben stets auf der Hut. Das Überwinden der Distanz zwischen den Häusern verlief problemlos, auch wenn es kein Kinderspiel war. Jeder von uns drohte einmal abzurutschen. Und bei alldem wurde das Wetter einfach nicht besser.
Schließlich erreichten wir die Straße, in der das große, einstöckige Fabrikgebäude lag. Ein wenig weiter rechts befand sich der Bahnhof von Ascia, der durch seinen alten Torbogen bestach und der hellen Gebäudefassade, die hier in der Stadt einmalig war. Er lag direkt hinter der Mauer.
»Bleib dicht hinter mir und sieh dich genau um. Wir wollen nicht sofort in eine Falle tappen«, murmelte ich, doch Hadley hörte nicht auf mich und blieb weiterhin an meiner Seite. Fragend sah ich ihn an und erkannte ein verschmitztes Lächeln auf seinen Lippen.
»Alison, ich weiß deine Anweisungen zu schätzen, allerdings schleiche ich mich nicht zum ersten Mal irgendwo an.« Seine Stimme klang freundlich, aber fest.
»Okay, okay. Entschuldige, ich lerne noch, wie man sich als Anführerin benimmt.« Er neigte leicht den Kopf. »Sag mir Bescheid, falls du was siehst«, fügte ich hinzu.
Nachdem wir keine auf uns lauernde Bedrohung feststellen konnten, beschlossen wir, den weniger offensichtlichen Eingang durch ein Dachfenster zu nehmen. Wir mussten zwar einen Halbkreis laufen, um das Dach zu erreichen, da die Lücke zwischen unserem Aussichtspunkt und der Fabrikhalle zu groß war, aber es klappte problemlos.
Das Dach war nur ganz schwach abfallend, bestand aus glatten Steinplatten und bot ungefähr in der Mitte mehrere Fenster an, die perfekt zum Einsteigen waren. Es stellte sich nur die Frage, ob wir im Inneren einen Weg finden würden, um nach unten zu klettern.
Die Fenster waren so montiert, dass sie sich zur Hälfte öffnen ließen, was durchaus ausreichte. Sowohl Hadley als auch ich waren nicht sonderlich groß und würden gerade so durchpassen. Bei Ophelia und Ian sähe das Ganze schon wieder anders aus. Obwohl sie schmaler waren als wir, würden ihnen ihrer langen Gliedmaßen Schwierigkeiten bereiten.
Wir hoben das Glasfenster an, welches ein quietschendes Geräusch von sich gab, das mich zusammenzucken ließ. Was auch immer für einen leisen Eintritt wir uns gewünscht hatten, er war damit dahin. Überraschen würden wir heute niemanden mehr.
Ich blinzelte in die dämmrige Dunkelheit der Fabrik, die durch ein paar wenige Gaslampen erhellt wurde, und erkannte sofort zwei Silhouetten, die sich durch die Eingangstür schoben, bevor sie hinter einem der schweren Bottiche, in denen Wachs erwärmt wurde, innehielten. Eine Treppe oder eine andere Möglichkeit, von hier oben nach unten zu gelangen, suchte ich leider vergeblich.
Fluchend zog ich mich zurück. »Wir müssen den Eingang benutzen. Und ich warne dich schon mal vor, Phi und Ian waren schneller.«
Hadley stimmte in mein Fluchen mit ein, was ihn aber nicht davon abhielt, vor mir den Eingang zu erreichen. Er zögerte lediglich eine Sekunde, ehe er in die Fabrik schlüpfte. Ich war direkt hinter ihm, um ihm den Rücken freizuhalten, und hatte das Waidblatt bereits gezogen, als wir von dem ersten Schattendämon angegriffen wurden. Kampfgeräusche weiter hinten in der Halle ließen darauf schließen, dass auch das andere Team böse überrascht worden war.
Ich überließ Hadley den Schattendämon, der mir aus der Zeit im Camp bekannt vorkam. Sein Name war etwas Ähnliches wie Frederik oder Freddy. Ich vertraute Hadleys Fähigkeiten, dass er gut genug war, mit einem Schattendämon fertig zu werden, während ich nach einer weiteren Nachricht Ausschau hielt.
Mich achtsam umschauend umrundete ich Bottich Nummer eins und zwei, wich den langen Arbeitstischen aus, auf dem noch diverse Werkzeuge ausgebreitet lagen, und versuchte den penetranten Geruch von unterschiedlichen Aromen zu ignorieren, der mir Übelkeit bereitete. Mein Geruchsinn war damit vollkommen überfordert. Im nächsten Moment war es mir jedoch kaum mehr möglich, mich auf das Bekämpfen meiner Übelkeit zu konzentrieren, da sich ein weiterer Dämon in den Schatten bewegte. Ich würgte unkontrolliert, aber noch behielt ich die Oberhand über meinen Magen.
Den Dämon hatte ich selbst über die Kampfgeräusche der anderen hinweg gehört, sobald er die Verfolgung aufgenommen hatte, wobei man es nicht wirklich hören nennen konnte. Es war, als würde sich etwas in meiner Umgebung verschieben. Ein Klang, der misstönend war und nicht zum Rest des Ensembles passte. Nun versuchte er sich anzuschleichen, um mich in einem denkbar ungünstigen Moment zu attackieren. Ich musterte meine Umgebung und entschied, dass er mich wohl angreifen würde, sobald ich mich in die Sackgasse begeben hatte, die sich vor mir ausbreitete. Eine metallene Treppe zog sich seitwärts nach oben, wurde jedoch von beiden Seiten eingezäunt. Die eigentliche Öffnung musste sich also weiter links befinden. Auf den anderen beiden Seiten befanden sich ein weiterer Bottich sowie die Seite eines steinernen Ofens.
Ich würde den Schattendämon in jedem Fall besiegen müssen, was bedeutete, ihn kampfunfähig zu machen, also drehte ich mich auf der Stelle um, um den Vorteil auf meiner Seite zu behalten. Wie erwartet, hatte er nicht damit gerechnet, dass ich sein Auftauchen bereits bemerkt hatte. Ich nutzte das Überraschungsmoment, duckte mich an ihm vorbei und rammte ihm meinen Ellbogen in den Rücken, sodass er nach vorne taumelte. Direkt in die Sackgasse.
Grinsend ließ ich ihm keine Zeit, sich zu orientieren, und schlug mit den Fäusten zu, denen er leider beiden auswich. Dann war der Moment meiner ersten Angriffswelle vorüber und wir befanden uns wieder auf gleicher Höhe. Nun ja, fast gleicher. Ich wusste, dass ich besser, flinker und stärker war als er.
Er versuchte mich mit seiner Kraft, anstatt mit seiner Schnelligkeit zu besiegen, was glücklicherweise nicht funktionierte. Es war fast schon lächerlich einfach, ihm auszuweichen. Vielleicht lag es auch daran, weil er mich unterschätzte, da er mindestens einen Kopf größer und auch um einiges breiter war als ich. Zudem sah er sich als unbesiegbaren Dämon und mich als schwachen Menschen. Die alte Leier eben.
»Das ist alles?«, lachte ich, als er mit einer Hand nach mir griff, um mir mit der anderen einen Schlag zu versetzen.
Er schnaufte heftig.
Da ich keine weitere Zeit zu verlieren hatte, machte ich kurzen Prozess, täuschte einen Angriff von rechts an, obwohl ich ihm mit links einen Schlag in die ungeschützte Kehle verpasste. Als er sich krümmte, setzte ich mit einem gezielten Tritt nach und positionierte mich dann hinter ihm. Mein Waidblatt lag geschärft an seiner Kehle.
»Du hast gewonnen«, gab er auf. Ich grinste süffisant, verpasste ihm mit dem Knauf einen Schlag auf den Hinterkopf und wartete, bis er keuchend zur Seite fiel. Er war zwar nicht bewusstlos, aber der Schmerz würde ihn weiter aufhalten. »Sorry, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher, als es später zu bereuen.«
Hadley schloss zu mir auf, als ich gerade über das Gerüst auf die Treppe kletterte. Ich hatte keine Lust gehabt, den Anfang zu suchen und von dort oben aus würde ich vermutlich einen besseren Überblick über die Situation gewinnen.
»Gute Arbeit«, gratulierte er mir. Seine Zähne wirkten in dem schwachen Licht unnatürlich hell.
»Ebenso. Hast du was von den anderen gehört?« Er schüttelte den Kopf. Gemeinsam sprinteten wir über die Eisenkonstruktion, die quer über die Halle verlief. Es dauerte nicht lange, da zog ein kreisrunder, rot ausgefüllter Punkt meine Aufmerksamkeit auf sich. »Dort! Das ist das gleiche Symbol wie an unserem Startpunkt.«
Als wir über das erhöhte Gitter liefen, passierten wir dabei Ophelia und Ian, die auf dem Boden gegen zwei Schattendämonen kämpften und sich ganz gut schlugen. So gut, dass wir uns am besten beeilten, wenn wir den Zielort vor ihnen erreichen wollten. Schließlich befanden wir uns über dem roten Punkt, neben dem auch einer in blau war. Unter beiden Farbsymbolen war jeweils ein Umschlag befestigt.
Nachdem Hadley und ich einen Blick ausgetauscht hatten, kletterten wir über das Eisengeländer. Sobald ich nur noch mit den Händen an einer Strebe hing, ließ ich mich die restlichen zwei Meter fallen und rollte mich auf dem schmutzigen Betonboden ab.
Hadley