Beharrt man hingegen auf dem Standpunkt, daß Verantwortlichkeit an Kontrollierbarkeit gebunden ist, scheint dies alles absurd zu sein. Wie sollte es denn möglich sein, daß einen Menschen eine schwerere oder eine leichtere Schuld trifft, je nachdem, ob ihm ein Kind in den Weg läuft oder ein Vogel in die Flugbahn der Kugel fliegt? Es mag ja wahr sein, daß das, was begangen wurde, von mehr abhängt als dem geistigen Zustand und den Absichten des Akteurs. Dann stellt sich aber das Problem, weshalb es denn nicht geradezu irrational sein sollte, moralische Wertung auf all das zu gründen, was Menschen in diesem weiten Sinne tun, denn das liefe doch darauf hinaus, sie sowohl für jenen Beitrag verantwortlich zu machen, der auf das Konto des Schicksals geht, als auch für den, der auf ihr eigenes Konto geht – wenn sie denn überhaupt etwas beigetragen haben, das rein auf ihr eigenes Konto geht. Denken wir an Fälle von Fahrlässigkeit oder an Attentatsversuche, scheint es sich im allgemeinen so zu verhalten, daß die Gesamtschuld das Produkt aus dem vorsätzlichen oder absichtlichen Vergehen und der Tragweite der Auswirkungen ist. Fälle von Entscheidung unter Bedingungen der Ungewißheit lassen sich auf diese Weise nicht so einfach erklären; denn hier scheint es, daß sich die Gesamtwertung je nach den Auswirkungen sogar vom Positiven zum Negativen wenden kann. Aber selbst hier hat es doch den Anschein der Vernünftigkeit, von den Wirkungen der auf eine Entscheidung folgenden Ereignisse, die zu dem betreffenden Zeitpunkt bloß möglich waren, abzusehen. Es scheint vernünftig, die moralische Wertung statt dessen auf die eigentliche Entscheidung im Lichte der zu diesem Zeitpunkt bekannten Wahrscheinlichkeiten zu konzentrieren. Ist der Adressat moralischer Wertung stets die Person, würde es unbeschränkter Haftung entsprechen, sie für all das verantwortlich machen zu wollen, was sie in jenem weiteren Sinne getan hat. Ein solches Prinzip mag zwar in der juridischen Sphäre seinen guten Sinn haben, doch als Standpunkt der Moral eignet ihm ein Nimbus der Irrationalität.
Ein solcher Gedankengang liefe darauf hinaus, jede Handlung auf ihren ›moralisch essentiellen Kern‹ einzuschränken, eben auf einen inneren Akt des reinen Willens, der rein nach Antrieb und Absicht zu beurteilen ist. Adam Smith hat eine solche Position in seiner Theorie der ethischen Gefühle verteidigt, merkt allerdings auch an, daß sie mit unserem tatsächlichen Werten erst gar nicht in Einklang steht:
So fest wir aber auch anscheinend von der Wahrheit dieses gerechten Grundsatzes überzeugt sein mögen, solange wir ihn auf die angegebene Weise in abstracto ins Auge fassen, so werden doch, wenn wir zur Betrachtung einzelner konkreter Fälle schreiten, die tatsächlichen Folgen, die zufällig aus einer Handlung entspringen, einen sehr großen Einfluß auf unser Gefühl von ihrer Verdienstlichkeit oder Tadelnswürdigkeit üben, und sie werden nahezu immer diese unsere Empfindung entweder steigern oder herabsetzen. Bei genauer Prüfung werden wir vielleicht kaum in einem einzigen Falle finden, daß sich unsere Gefühle ganz und gar durch jene Regel bestimmen lassen, die, wie wir alle anerkennen, doch ausschließlich unsere Gefühle bestimmen sollte.5
Darüber hinaus führt uns Feinberg vor Augen6, daß keine Beschränkung des Bereichs moralischer Verantwortlichkeit auf eine reine Innenwelt Verantwortlichkeit jemals gegen moralische Kontingenz immunisieren könnte. Faktoren, die jenseits der Kontrolle eines Handelnden liegen – wie z. B. ein Hustenanfall – können seine Entscheidung ebenso sicher beeinträchtigen wie die Flugbahn der Kugel aus seinem Gewehr. Alledem zum Trotz ist die Tendenz weitverbreitet, den Bereich dessen, was moralischer Wertung unterzogen werden kann, einzugrenzen, und sie beschränkt sich keineswegs darauf, den Einfluß von Folgen abzuschwächen. Man ist geneigt, den Willen sozusagen auch nach der anderen Richtung hin abzuschirmen, indem man die Kontingenz der eigenen Konstitution ebensogut ausgrenzt. Gehen wir dem als nächstes nach.
Es war vor allem Kant, der besonderen Nachdruck darauf legte, Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften, solange sie nicht der Kontrolle des Willens unterlägen, seien ethisch irrelevant. Qualitäten wie Warmherzigkeit oder Gefühlskälte mögen zwar Randbedingungen schaffen, unter denen es mehr oder minder schwer fällt, moralischen Aufforderungen Folge zu leisten, könnten aber nicht selbst Gegenstand moralischer Wertung sein, und sie könnten eine sichere Beurteilung des eigentlichen Gegenstands moralischer Wertung, nämlich die Bestimmung des Willens durch das Motiv der Pflicht, sogar beeinträchtigen. Damit wird aber von vornherein eine moralische Bewertung zahlreicher Tugenden und Schwächen ausgeschlossen, die eben Charakterzüge sind und durchaus jemandes Motivation beeinflussen, die sich aber mit Sicherheit nicht in Dispositionen zu bestimmten überlegten Handlungen erschöpfen. Eine Person mag habgierig, mißgünstig, feige, gefühllos, geizig, unfreundlich, eingebildet oder eitel sein, und sich dennoch in einer gewaltigen Willensanstrengung korrekt benehmen. Solche Laster zu haben bedeutet, daß man sich unter gewissen Umständen bestimmter Gefühle nicht erwehren kann und spontane Impulse verspürt, schlecht zu handeln. Diese Laster hat man auch dann noch, wenn man die von ihnen ausgehenden Impulse kontrollieren kann. Ein neidischer Mensch haßt nach wie vor den größeren Erfolg anderer und wäre als neidischer Mensch selbst dann noch moralisch zu verurteilen, wenn er anderen freundlich gratulierend gegenübertritt und nichts unternimmt, ihren Erfolg zu schmälern oder zunichte zu machen. Eitelkeit muß ja nicht äußerlich sichtbar sein. Wer einfach nicht anders kann als sich ständig mit heimlicher Genugtuung die Überlegenheit seiner Leistungen und Talente, seiner Schönheit, seiner Intelligenz und Tugend zu vergegenwärtigen, ist und bleibt gewiß auch dann eitel, wenn er diese Genugtuung nicht offen zur Schau trägt. Bis zu einem gewissen Grade kann eine solche Eigenschaft das Ergebnis früherer Entscheidungen sein; und zu einem Teil kann sie auch Änderungen zugänglich sein, die durch neues Handeln bewirkt werden. Doch zum überwiegenden Teil gehen diese Eigenschaften auf unglückliche Kontingenzen der eigenen inneren Konstitution zurück. Dennoch wird man ihretwegen moralisch verurteilt, und andere Eigenschaften, die ebensowenig der willkürlichen Kontrolle unterliegen, werden einem zugute gehalten: Menschen wertet man danach, wie sie sind.
Kant müssen solche Wertungen inkohärent erscheinen, denn bei ihm haben wir haben ja alle die Pflicht zur Tugend, und daher muß es von vornherein auch jedermann möglich sein, ihren moralischen Aufforderungen Folge zu leisten. Manch einem mag dies leichter fallen als anderen, aber völlig unabhängig davon, wie man charakterlich veranlagt ist, muß es stets möglich sein, dieses Ziel zu erreichen, indem man die rechte Entscheidung trifft7 Man mag sich wünschen, großzügig zu sein oder es bedauern, kleinlich zu sein, aber es ist ungereimt, sich selbst oder jemand anderen einer Eigenschaft wegen zu verurteilen, die man nicht willkürlich kontrollieren kann: Schließlich drückt eine moralische Verurteilung ja aus, daß man nicht so sein soll, wie man ist, und besagt nicht, daß es bedauerlich ist, daß man eine bestimmte Eigenschaft hat.
Gleichwohl ist und bleibt Kants Schlußfolgerung intuitiv nicht akzeptabel. Man kann uns davon zu überzeugen suchen, daß unsere moralischen Wertungen irrational sind, aber sobald wir das Argument dafür nicht mehr unmittelbar vor Augen haben, drängen sie sich uns unwillkürlich wieder auf. Das ist das Grundmuster, das sich durch unser gesamtes Thema hindurchzieht.
Die dritte zu beachtende Kategorie betrifft Kontingenzen der äußeren Umstände, in denen man sich befindet, und ich werde sie nur kurz ansprechen. Die Dinge, die wir tun müssen, wie auch die moralischen Prüfungen, denen wir uns zu unterziehen haben, sind in erheblichem Maße jederzeit von Faktoren determiniert, die sich unserer Kontrolle entziehen. Es mag ja sein, daß sich jemand in einer gefährlichen Situation feige oder aber heroisch verhalten würde, doch falls sich niemals eine entsprechende Lebenslage ergibt, wird er auch niemals Gelegenheit haben, sich in dieser Weise hervorzutun respektive in unserer Achtung zu sinken. Sein moralischer Ruf wird vielmehr ein anderer sein.8
Ein in unserem Jahrhundert unübersehbares Beispiel für dieses Phänomen stammt aus dem politischen Leben. Der Durchschnittsbürger in Nazideutschland hatte Gelegenheit, Widerstand gegen sein Regime zu leisten und sich damit heroisch zu verhalten. Er hatte aber auch die Möglichkeit, sich schlecht zu verhalten – und den meisten Deutschen ist vorzuwerfen, bei dieser Prüfung gravierend versagt haben. Es handelte sich allerdings um eine Prüfung, der sich die Bürger anderer Staaten erst gar nicht unterziehen mußten, was wiederum heißt, daß sich letztere faktisch einfach nicht schlecht verhalten haben – selbst wenn sie (oder wenigstens manche von