Weder mache ich mir diesen Aspekt seiner Theorie zu eigen noch kann ich die meisten seiner metaphysischen Voraussetzungen zugestehen, aber das Bild, das Sartre von dem Versuch zeichnet, finde ich durchaus interessant. Er sagt, daß sich die Art von Besitz, die das Objekt sexuellen Verlangens ist, durch ein »zweifaches wechselseitiges Zufleischwerdenlassen« verwirklichte; und dies wiederum werde typischerweise in Form einer Liebkosung in folgender Weise herbeigeführt:
»Ich mache mich zu Fleisch, um den anderen dafür zu gewinnen, für sich und für mich sein eigenes Fleisch zu realisieren, und meine Liebkosungen lassen mein Fleisch für mich erstehen, insofern es für den anderen Fleisch ist, das ihn zum Fleische geboren werden läßt.«2
Diese Fleischwerdung wird abwechselnd als ein Verkleben oder als eine Trübung des Bewußtseins beschrieben, das vom Fleisch, in dem es verkörpert ist, überflutet wird.
Die Position, die ich – wie ich hoffe, mit den Mitteln einer weniger dunklen Sprache – vertreten möchte, hat zwar mancherlei mit Sartres Ansichten gemein, unterscheidet sich von ihnen aber darin, daß, sie nicht von vornherein ausschließt, daß Sexualität bisweilen ihr Ziel erreicht, womit dann auch eine Basis für den Begriff der Perversion hergestellt wäre.
Sexuelles Verlangen führt stets eine Art Wahrnehmung mit sich, jedoch nicht nur eine einzelne Wahrnehmung des Objekts der sexuellen Begierde, denn der paradigmatische Fall wechselseitigen Verlangens zeichnet sich durch ein komplexes System einander überlagernder wechselseitiger Wahrnehmungen aus – und zwar spielen hier nicht nur Wahrnehmungen des Sexualobjekts eine Rolle, sondern vor allem auch Selbstwahrnehmungen. Darüber hinaus erfordert das sexuelle Gewahren eines anderen zunächst einmal, daß man seiner selbst gewahr wird, und zwar in weit höherem Maße als dies bei gewöhnlicher Sinneswahrnehmung der Fall ist. Das Erlebnis wird durch den Blick (die Berührung u. dgl.) des Sexualobjekts gleichsam wie ein regelrechter Angriff auf einen selbst empfunden.
Wir wollen einen Fall untersuchen, bei dem sich die einzelnen Elemente voneinander trennen lassen. Um der Klarheit willen werden wir uns einstweilen auf den etwas künstlichen Fall des Verlangens aus der Distanz beschränken. Nehmen wir also an, ein Mann und eine Frau – nennen wir die beiden hier Romeo und Julia – befänden sich jeweils auf der entgegengesetzten Seite eines Partyraumes, an dessen Wänden zahlreiche Spiegel angebracht sind, so daß es möglich wird, jemanden unbeobachtet zu beobachten – ja, sich gegenseitig unbeobachtet zu beobachten. Jeder unserer beiden nippt an seinem Martini und mustert die anderen Gäste in den Spiegeln. Irgendwann wird Romeo nun Julia bemerken. Er wird vom Anblick ihrer weichen Haare und der schüchternen Art wie sie an ihrem Martini nippt, irgendwie ergriffen und schließlich sexuell erregt. Sagen wir hierfür im folgenden X spüre Y, wann immer X ein sexuelles Verlangen nach Y verspürt. (Y muß dabei keine Person sein, und X’ Wahrnehmung von Y kann visueller oder taktiler Natur sein; X mag Y durch den Geruch wahrnehmen oder es mag sich um bloße Vorstellung handeln; für die Zwecke unseres Beispiels wollen wir uns einmal auf die visuelle Wahrnehmung konzentrieren.) Romeo spürt also Julia, er bemerkt sie nicht bloß. In diesem Stadium wird er von einem Objekt erregt, das selbst nicht erregt ist; mithin hat sein Körper ihn stärker sexuell ergriffen als ihr Körper sie.
Nehmen wir nun weiter an, daß Julia in just diesem Augenblick Romeo in einem anderen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand ihrerseits spürt; doch bislang weiß noch keiner der beiden, daß er vom anderen gesehen wird (die Reflexionswinkel der Spiegel ermöglichen Profilansichten). Romeo beginnt nun, an Julia die kaum sichtbaren Zeichen sexueller Erregung zu bemerken: den unverwandten Blick unter halb geschlossenen Augenlidern, die erweiterten Pupillen, das leichte Erröten. Das intensiviert natürlich ihre körperliche Präsenz für ihn, und er bemerkt dies nicht nur, sondern spürt es auch. Für ihn bleibt seine Erregung allerdings immer noch unbeantwortet. Aber nun erkennt Romeo, der Blickrichtung Julias geschickt folgend, ohne ihr dabei aber in die Augen zu sehen, daß ihr Blick durch den Spiegel an der entgegengesetzten Wand auf ihn gerichtet ist: Er bemerkt, ja spürt, daß Julia ihn spürt. Das ist nun aber ein ganz neues Stadium, denn in Romeo wird ein Gefühl der Verkörperung geweckt, und zwar nicht nur durch seine eigenen Reaktionen, sondern auch durch die Augen und die Reaktionen des anderen. Dieses Stadium läßt sich außerdem von demjenigen unterscheiden, in dem Romeo Julia anfänglich gespürt hat. Denn die sexuelle Erregung kann auch dadurch ausgelöst werden, daß jemand spürt, daß er selbst von einem anderen Menschen gespürt wird – so daß er durch die Wahrnehmung des Verlangens des anderen Menschen bestürmt wird, und nicht bloß durch die Wahrnehmung des anderen Menschen.
Aber es gibt noch ein weiteres Stadium. Nehmen wir an, daß Julia, die ein bißchen langsamer ist als Romeo, nun auch spürt, daß er sie spürt. Dies versetzt Romeo nun wiederum in die Lage zu bemerken – und dadurch auch erregt zu werden – daß sie in Erregung gerät, weil er sie spürt. Er spürt, daß sie spürt, daß er sie spürt. Dies ist erneut ein anderes Stadium der Erregung, denn nun wird sich Romeo seiner Sexualität bewußt, da er sowohl ihre Wirkung auf Julia bemerkt als auch beobachtet, daß sie erkennt, daß diese Wirkung auf ihn zurückzuführen ist. Wenn sie nun auch in dieses Stadium kommt, also spürt, daß er spürt, daß sie ihn spürt, wird es langsam schwierig, noch weitere iterierende Stadien anzugeben oder sich gar vorzustellen, obwohl sie vielleicht logisch durchaus von den anderen Stadien unterschieden werden könnten. Wären die beiden nun allein, würden sie sich vermutlich umdrehen, um sich direkt anzusehen – und die Vorgänge würden sich auf einer anderen Ebene fortsetzen. Physische Berührung und Geschlechtsverkehr sind die natürlichen Erweiterungen dieses komplizierten visuellen Austauschs; und bei gegenseitiger Berührung können die Wahrnehmungsvorgänge ebenso verwickelt sein wie im visuellen Fall, aber sie lassen einen weitaus größeren Spielraum für Nuancierungen und Intensitätsabstufungen.
Normalerweise laufen diese Vorgänge natürlich bei weitem nicht so geordnet ab – manchmal handelt es sich ja gerade um einen regelrechten Ausbruch – aber ich glaube, daß dieses sich überlappende System jeweils verschiedener sexueller Wahrnehmungen und Interaktionen in der einen oder anderen Ausprägung die Grundbedingungen jeder vollentwickelten sexuellen Beziehung ausmacht, und daß Beziehungen, die nur einen Teil dieses Komplexes umfassen, in einem signifikanten Sinne unvollkommen sind. Diese Darstellung ist lediglich schematisch, was indessen unvermeidlich ist, sofern Allgemeingültigkeit angestrebt werden soll. Jede wirklich sexuelle Handlung trägt weit spezifischere psychologische Züge und unterscheidet sich von anderen durch charakteristische Einzelheiten. Dafür sind nicht nur die angewandten physischen Techniken und anatomischen Besonderheiten verantwortlich, sondern auch eine Unmenge von Eigenheiten, die für das Bild charakteristisch sind, das die Beteiligten voneinander und von sich selbst haben, und die in die sexuelle Handlung eingehen. (Uns allen ist nicht unbekannt, daß Menschen nicht selten ihre eigenen sozialen Rollen mitsamt denen ihrer Partner mit ins Bett nehmen.)
Dennoch ist das allgemeine Schema von großer Bedeutung. Die darin enthaltenen Überwucherungen verschiedener Stadien wechselseitiger Wahrnehmung sind ein Beispiel für eine Art von Komplexität, die für menschliche Interaktionen typisch ist. Denken