Betrachten wir zunächst den Fall der Kontingenz im Hinblick darauf, wie die Dinge letztlich ausgehen – mag es sich dabei nun um Glück oder Pech handeln. Kant denkt in dem eingangs zitierten Passus an ein Beispiel dieser Kategorie, die allerdings ein weites Feld abdeckt: etwa den LKW-Fahrer, dem zufällig ein Kind ins Fahrzeug läuft, oder den Künstler, der eine Schar von fünf Kindern samt Ehefrau verläßt, um sich nur noch der Malerei zu widmen3, ganz zu schweigen von Möglichkeiten, in denen der Erfolg oder Mißerfolg noch weitaus weltbewegender ausfallen können. Dort, wo der LKW-Fahrer sich nicht das mindeste hat zuschulden kommen lassen, wird er sich dennoch furchtbar elend fühlen wegen seines Anteils an dem Unfall. Doch moralische Vorwürfe wird er sich keine machen müssen, und deshalb wird es sich hier zwar um ein Beispiel für jenes typische Bedauern handeln, das ein Akteur dem eigenen Handeln gegenüber empfinden mag, aber noch nicht um den Sonderfall spezifisch moralischen Pechs. Hätte sich der LKW-Fahrer indes nur im mindesten der Fahrlässigkeit schuldig gemacht – etwa weil er es verabsäumt hätte, turnusgemäß seine Bremsen überprüfen zu lassen – würde er sich, sofern dieses Versäumnis zum Tod des Kindes beigetragen hätte, nicht allein elend fühlen, sondern er würde sich moralische Vorwürfe wegen des toten Kindes machen. Und was dies zu einem Fall moralischer Kontingenz macht, ist der Umstand, daß er sich wegen seiner Fahrlässigkeit kaum schuldig fühlen müßte, wäre er nicht in jene Unfallsituation geraten, die ihn zwang, plötzlich und heftig seine Bremsen zu beanspruchen, um abzuwenden, daß ein Kind überfahren wird. Doch ist die Fahrlässigkeit in beiden Fällen eine und dieselbe, und der LKW-Fahrer hat keinerlei Kontrolle darüber, ob ihm ein Kind in den Weg läuft.
Dasselbe gilt auch für Fälle gravierenderer Fahrlässigkeit. Hat einer zuviel getrunken und schlittert er daraufhin mit seinem Auto über einen Bürgersteig, kann er in moralischer Hinsicht von Glück reden, wenn sich dort gerade keine Fußgänger befinden. Sonst würde man ihn nämlich für deren Tod verantwortlich machen müssen und ihn vermutlich wegen fahrlässiger Tötung strafrechtlich verfolgen. Verletzt er hingegen niemanden, macht er sich, wiewohl seine Rücksichtslosigkeit in beiden Fällen genau dieselbe ist, einer viel leichteren Straftat schuldig. Er wird sich dann sicherlich geringere Vorwürfe machen und auch von anderen weit weniger streng beurteilt werden. Oder um ein schlagendes Beispiel aus dem rechtlichen Bereich anzuführen: Das Strafmaß für versuchten Mord ist bedeutend weniger hoch als das für vollendeten Mord, wie sehr sich die Absichten und Motive des Täters in beiden Fällen auch gleichen mögen. Selbst das Ausmaß der Schuld kann also davon abhängen, so sieht es doch offenbar aus, ob das Opfer zufällig eine kugelsichere Weste trägt oder ob gerade ein Vogel in die Flugbahn der Kugel hineinfliegt – von Umständen, die schwerlich der Kontrolle des Handelnden unterliegen.
Und schließlich gibt es noch jene Fälle, in denen eine Handlungsentscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit getroffen wird – und es gibt sie im öffentlichen Leben wie im Privatleben. Anna Karenina brennt mit Vronsky durch, Gauguin läßt seine Familie hinter sich, Chamberlain unterzeichnet das Münchner Abkommen, die Dekabristen überreden die unter ihrem Kommando stehenden Truppen, sich gegen den Zaren zu erheben, die amerikanischen Kolonien erklären ihre Unabhängigkeit von England, oder du selbst stellst in dem Bemühen, eine Heirat zu vermitteln, zwei Menschen einander vor. Man ist hier versucht zu wähnen, daß es in allen diesen Fällen bereits im Lichte dessen, was zu dem jeweiligen Zeitpunkt bekannt ist, einfach möglich sein muß, irgendeine Entscheidung zu treffen, die auch unabhängig davon, wie die Dinge ausgehen, gegen moralische Vorwürfe immun bliebe. Das ist jedoch schlicht nicht wahr, denn wer in der einen oder anderen Weise so handelt, nimmt sein Leben mitsamt seinem moralischen Ansehen in die eigenen Hände; was jemand dann begangen hat, hängt nunmehr davon ab, welche Wendung die Ereignisse nehmen werden. Es ist natürlich auch möglich, die Entscheidung aus der Perspektive dessen zu werten, was zu dem Zeitpunkt, zu dem sie getroffen wurde, über die Umstände bekannt sein konnte, aber damit hat die Sache schwerlich schon ein Ende. Hätten die Dekabristen Erfolg gehabt, hätten sie also Nikolaus den Ersten 1825 gestürzt und eine konstitutionelle Regierungsform durchgesetzt, wären sie zu Helden geworden. So, wie die Dinge aber wirklich ausgingen, scheiterten sie nicht allein und mußten dafür büßen, sondern sie trugen auch ein gewisses Maß an Mitverantwortung für die schreckliche Bestrafung der Truppen, die sie für ihre Ziele gewonnen hatten. Wäre die amerikanische Revolution ein blutiger Mißerfolg gewesen, der in noch weit größerer Unterdrückung geendet hätte, dann wäre Jefferson, Franklin und Washington zwar nach wie vor ein anerkennenswerter Versuch zugute zu halten, den sie womöglich auf ihrem Weg zum Schafott noch nicht einmal bedauert hätten, doch hätten sie sich dann andererseits auch Vorwürfe dafür machen müssen, was ihretwegen ihren Landsleuten angetan wurde. (Vielleicht hätten ja auch friedliche Reformbestrebungen letzten Endes zum Erfolg geführt.) Oder wäre Hitler nicht über ganz Europa hergefallen und hätte er nicht Millionen von Menschen vernichten lassen, sondern wäre er kurz nach der Besetzung des Sudetenlandes an Herzversagen gestorben, dann wäre Chamberlains Unterzeichnung des Münchener Abkommens zwar immer noch ein schwerer Verrat an den Tschechen gewesen, nicht aber die moralische Katastrophe, aufgrund derer sein Name in aller Munde war.4
Oft genug können wir bei vielen schwierigen Entscheidungen die Auswirkungen nicht mit hinreichender Sicherheit vorhersehen. Eine Art der Bewertung einer Entscheidung mag jeweils antizipiert werden, bei einer anderen aber ist das Ergebnis abzuwarten, da von den Folgen ja abhängt, was letztlich begangen wurde. Ein und derselbe Grad von Schuld oder Verdienst bei Absichten, Motiven und Interessen ist hier kompatibel mit den unterschiedlichsten endgültigen Wertungen, sowohl positiver als auch negativer Art, die von Ereignissen abhängen, die erst eintreten, nachdem die Entscheidung gefällt worden ist. Die Gründe moralischen Wertens erschöpfen sich keinesfalls in jener mens rea, die auch ohne alle Folgen existiert haben könnte. In sehr vielen Bereichen, die fraglos allesamt Fälle ethischer Wertung sind – ihr Spektrum reicht von Fahrlässigkeit bis hin zu politischen Prinzipienentscheidungen – hängen Schuld oder Verdienst von den tatsächlich eingetretenen Folgen ab.
Daß es sich gleichwohl um genuin moralische Wertungen handelt und nicht etwa nur darum, einer zeitweiligen Einstellung Ausdruck zu verleihen, läßt sich aus der Tatsache ersehen, daß man ja bereits im voraus angeben kann, in welcher Weise unser moralisches Urteil später von den eingetretenen Folgen abhängen wird. Hat jemand leichtsinnigerweise ein Baby in einer vollaufenden Badewanne allein gelassen, wird ihm, noch während er die Treppe zum Badezimmer hinaufeilt, mit einem Male klar, daß er etwas Schreckliches getan hat, falls das Kind ertrunken ist, während er andernfalls bloß unachtsam gewesen ist. Und wer eine gewaltsame Revolution gegen ein autoritäres Regime vom Zaun bricht, weiß von vornherein, daß er für eine Menge vergeblichen Leids verantwortlich sein wird, falls sie mißlingt, doch ebensogut weiß er, daß er, wenn er Erfolg hat, durch das Ergebnis sehr wohl gerechtfertigt sein wird. Ich sage damit keinesfalls, daß jede Tat rückwirkend durch den Gang der Geschichte gerechtfertigt werden kann. Gewisse Handlungen sind bereits für sich betrachtet dermaßen schlimm oder riskant, daß kein Ergebnis sie je wiedergutmachen könnte. Aber auch dort, wo moralische Wertungen von den Folgen abhängen, bleiben sie allemal objektiv und zeitlos gültig und ihre Gültigkeit hängt nicht etwa von einem durch den Erfolg oder Mißerfolg produzierten Perspektivenwechsel