Ich möchte nun einige Beispiele geben und dabei mit der Art von Fällen beginnen, die Kant vor Augen hatte. Ob etwas, das wir versuchen, uns gelingt oder mißlingt, hängt nahezu immer in gewissem Maße von Faktoren ab, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. Das gilt für Mord ebenso wie für Altruismus oder für Revolutionen; ja, es gilt sogar wenn wir eigene Interessen zum Wohle anderer hintanstellen – also für fast jede Handlung, die moralisch relevant ist. Was dann jeweils getan wurde, was mithin moralischer Wertung unterliegt, wird von externen Faktoren mitverursacht. Wie sehr der gute Wille auch für sich selbst gleich einem Juwel glänzen mag, besteht doch ein moralisch wesentlicher Unterschied zwischen der Situation, in der ich jemanden aus einem brennenden Gebäude in Sicherheit bringe, und einer Situation, in der ich ihn bei meinem Rettungsversuch aus einem Fenster im zwölften Stock fallen lasse. Und entsprechend besteht ein moralisch bedeutsamer Unterschied zwischen rücksichtslosem Fahren und fahrlässiger Tötung. Doch ob es tatsächlich dazu kommt, daß ein Fußgänger überfahren wird, hängt davon ab, ob er sich gerade an der Stelle befindet, an der ein rücksichtsloser Fahrer bei Rot durchrast. Und ebensogut hängt, was einer tut, von den Möglichkeiten und Alternativen ab, mit denen er konfrontiert ist, und diese sind wiederum großenteils von Faktoren mitdeterminiert, die nicht seiner Kontrolle unterliegen. Einer, der faktisch Aufseher in einem Konzentrationslager wurde, hätte womöglich ein ruhiges und harmloses Leben geführt, wären die Nazis in Deutschland nie an die Macht gekommen. Oder umgekehrt: Jemand, der in Argentinien ein ruhiges und harmloses Leben verbracht hat, wäre vielleicht Scherge in einem Konzentrationslager geworden, hätte er Deutschland nicht aus geschäftlichen Gründen im Jahre 1930 verlassen.
Später werde ich näher auf diese und weitere Fälle eingehen. Ich führe sie an dieser Stelle ein, um eine allgemeine These deutlich zu machen: Wann immer ein wesentlicher Aspekt dessen, was ein Mensch tut, von Faktoren abhängt, die nicht seiner eigenen Kontrolle unterliegen, und wir ihn unbeschadet dessen in der betreffenden Hinsicht nach wie vor als Gegenstand moralischer Wertung behandeln, können wir von moralischer Kontingenz sprechen. Bei derlei Kontingenz kann es sich um moralisches Glück handeln oder um moralisches Pech. Die Schwierigkeit, die im Zusammenhang mit diesem Phänomen aufkommt (und Kant gar veranlaßte, die Möglichkeit des Phänomens selbst in Abrede zu stellen) besteht darin, daß der globale Bereich externer Einflüsse, von dem die Rede war, bei genauerer Prüfung eine moralische Wertung ebenso unbestreitbar untergräbt, wie der engere Bereich der uns vertrauteren Entschuldigungsgründe für eine Handlung. Wendeten wir durchgängig die Bedingung der Kontrollierbarkeit an, würden sich infolgedessen die meisten unserer moralischen Wertungen aufzulösen drohen, die wir für selbstverständlich halten. Dinge, für die Menschen moralisch beurteilt werden, hängen in weit erheblicherem Maße von Vorgängen ab, die gar nicht erst ihrer Kontrolle unterliegen, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Und sobald man die scheinbar so natürliche Bedingung von Schuld oder Verantwortlichkeit dann im Lichte all dieser Tatsachen betrachtet, bleiben nur wenige unserer präreflexiven moralischen Wertungen unberührt. Ja, letzten Endes scheint nichts oder annähernd nichts von dem, was ein Mensch tut, von ihm allein kontrolliert zu werden.
Warum dann nicht schließen, daß die Kontrollierbarkeitsbedingung eben falsch ist – daß es sich bei ihr um eine anfänglich plausible Hypothese handelt, die sich jedoch in Anbetracht zwingender Gegenbeispiele nicht mehr halten läßt? Dann könnte man nämlich nach einer differenzierten Bedingung suchen, die jene Arten eingeschränkter Kontrollierbarkeit namhaft machen würde, die wirklich bestimmte moralische Wertungen untergraben, und so der inakzeptablen Konsequenz ausweichen, die sich aus der globaleren Bedingung ergäbe, daß womöglich die meisten oder gar alle moralischen Wertungen, die wir tagtäglich vornehmen, illegitim sind.
Was uns diesen Ausweg verunmöglicht, ist, daß wir es hier nicht nur mit einer theoretischen Hypothese zu tun haben, sondern mit einem philosophischen Problem. Die Kontrollierbarkeitsbedingung empfiehlt sich nicht einfach bloß aufgrund einer Verallgemeinerung, die auf einer Reihe eindeutiger Fälle beruht. Sie scheint uns gerade auch angewandt auf Fälle, die außerhalb der anfänglichen Fallmenge liegen, von vornherein die korrekte Bedingung zu sein. Sobald man moralische Wertung außer Kraft setzt, indem man sich darüber klar wird, daß noch ganz andere, neue Faktoren der Unkontrollierbarkeit im Spiel waren, entdeckt man nicht einfach nur, was unter Voraussetzung jener allgemeinen Hypothese folgen würde, sondern man ist dann tatsächlich überzeugt davon, daß auch in den anderen Fällen das pure Fehlen der Kontrollierbarkeit bereits entscheidend ist. Zur Erosion moralischen Wertens kommt es nicht etwa als absurde Konsequenz einer womöglich zu grob vereinfachenden Theorie, sondern vielmehr als natürliche Konsequenz unserer alltäglichen Vorstellung moralischer Wertung selbst, nunmehr vor dem Hintergrund einer eben vollständigeren und präziseren Berücksichtigung der Tatsachen. Es wäre daher fehlerhaft, aus der Unannehmbarkeit der Konsequenzen schließen zu wollen, eine andersartige Theorie der Bedingungen moralischer Verantwortlichkeit werde nötig. Die Ansicht, daß moralische Kontingenz paradox ist, war ja kein Fehler – und zwar weder ein ethischer noch ein logischer – sondern eine genuine Einsicht in eine der Weisen, auf die eine intuitiv einleuchtende Bedingung der Möglichkeit moralischen Wertens in der Tat alles zu untergraben droht.
Die Problemlage gleicht der in einer anderen Disziplin der Philosophie, nämlich der Erkenntnistheorie. Auch dort drohen Bedingungen, die vollkommen selbstverständlich zu sein scheinen und die aus alltäglichen Verfahren erwachsen, mit denen man Erkenntnisansprüche in Frage stellt oder verteidigt, alle diese Ansprüche zu untergraben, sobald man jene Bedingungen nur konsequent anwendet. Die meisten skeptischen Argumente haben die folgende Eigenschaft: Sie beruhen nicht etwa darauf, daß man willkürlich strenge Maßstäbe an menschliches Wissen heranträgt, die auf einem Mißverstehen solchen Wissens beruhen, sondern kommen unvermeidlich auf, sobald man die alltäglichen Maßstäbe nur konsequent anwendet.2 Darüber hinaus liegt aber auch inhaltlich eine genuine Parallele vor, denn auch der erkenntnistheoretische Skeptizismus erwächst ja aus der Betrachtung derjenigen Hinsichten, in denen unsere Meinungen und ihr Realitätsbezug von Faktoren abhängen, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. Es sind sowohl äußere als auch innere Ursachen, die menschliche Meinungen generieren. Wir können zwar diese Prozesse in der Absicht, Irrtümer zu vermeiden, einer genauen Prüfung unterziehen, doch unsere Ergebnisse resultieren dann auf der jeweils nächsten Stufe ihrerseits zu einem wesentlichen Teil aus Einflüssen, die wir erneut nicht unmittelbar kontrollieren. Und das wird immer so bleiben, gleichviel, wie weit wir die Untersuchung vorantreiben. Unsere Meinungen werden immer und ausnahmslos auch von Ursachen abhängig sein, die jenseits menschlicher Kontrolle liegen, so daß die Unmöglichkeit, diese Faktoren zu überlisten, ohne uns zugleich wieder anderen auszuliefern, uns daran zweifeln läßt, ob wir überhaupt etwas wirklich wissen. Es sieht dann so aus, als handle es sich gar nicht erst um Wissen, sondern eher um schiere biologische Kontingenz, daß überhaupt eine Reihe unserer Überzeugungen wahr sind.
Moralische Kontingenz ist ein vergleichbarer Sachverhalt, denn obwohl die natürlichen Objekte moralischer Wertung in vielerlei Hinsichten entweder nicht unserer eigenen Kontrolle unterliegen oder doch durch Faktoren beeinflußt werden, die wir nicht unter Kontrolle haben, können wir diese Tatsachen nicht einbeziehen, ohne die Möglichkeit einzubüßen, an unseren moralischen Wertungen festzuhalten.
Im großen und ganzen unterliegen die natürlichen Adressaten moralischer Wertung in vier gleichermaßen beunruhigenden Hinsichten unbestreitbar der Kontingenz: Zum einen kennen wir das