Letzte Fragen. Thomas Nagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Nagel
Издательство: Bookwire
Серия: eva taschenbuch
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935108
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auf etwas überaus Schlimmes gehandelt hat). Gewöhnlich gilt Keats' Tod im Alter von nur vierundzwanzig Jahren als eine Tragödie, nicht aber Tolstois Tod als Zweiundachtzigjähriger. Obwohl beide bis in alle Ewigkeit tot sind, wurde Keats ja vieler Lebensjahre beraubt, die Tolstoi noch beschieden waren. Keats mußte also ganz eindeutig einen komparativ größeren Schaden erleiden (obwohl dies freilich nicht der Sinn von »größer« ist, mit dessen Hilfe unendliche Quantitäten normalerweise in der Mathematik verglichen werden).

      Indessen kann so nicht bewiesen werden, daß Tolstoi etwa nur einen unbedeutenden Verlust erlitten hat. Denn womöglich verhält es sich lediglich so, daß wir erst dann Protest einzulegen pflegen, wenn das Unausweichliche noch durch üble Dreingaben unnötig vermehrt wird. Jedenfalls nimmt die Tatsache, daß es entschieden schlechter ist, mit vierundzwanzig als mit zweiundachtzig Jahren zu sterben, dem Tod eines Zweiundachtzigjährigen nichts von seinem Schrecken – ebensowenig wie dem Tod eines Achthundertsechsjährigen. In Frage steht dann, ob wir eine Beschränkung, die wie die Sterblichkeit für eine Spezies normal ist, überhaupt für ein Unglück erachten können. Blind oder fast blind zu sein, ist für den Maulwurf schließlich kein Unglück und wäre es auch nicht für den Menschen, würde es von Natur aus zur Beschaffenheit seiner Spezies gehören, daß er nicht sehen kann.

      Das Mißliche hieran ist, daß uns das Leben immer schon vertraut macht mit all dem Guten, das der Tod uns dann raubt. Wir sind deshalb, im Unterschied zum Maulwurf, der die Fähigkeit zu sehen erst gar nicht würdigen kann, in der Lage, den Wert dieses Guten zu erkennen. Lassen wir die Zweifel beiseite, ob es sich überhaupt um etwas Gutes handelt, und gestehen wir außerdem zu, daß das Ausmaß des Guten zu einem Teil davon abhängt, wie lange es andauert, verbleibt uns die Frage, ob gesagt werden kann, daß der Tod, völlig gleichgültig wann er eintritt, sein Opfer der im relevanten Sinne möglichen Fortsetzung seines Lebens beraubt.

      Die Problemlage ist doppeldeutig. Aus der externen Perspektive besehen haben menschliche Wesen unbestreitbar eine natürliche Lebenserwartung und können unmöglich wesentlich älter werden als hundert Jahre. Doch das interne Bewußtsein, das jemand von seinem eigenen Erleben hat, schließt gerade nicht diese Vorstellung ein, daß die Natur seinem Leben eine Grenze gesetzt hat, vielmehr konkretisiert sich ihm das Dasein des Individuums als eine virtuell endlose Zukunft mit den gewohnten Wechselfällen von Gutem und Schlechtem, die ihm in der Vergangenheit so erträglich erschienen sind. Nun da er durch eine geradezu überflüssige Verkettung natürlicher, historischer und sozialer Kontingenzen auf die Welt gekommen ist, findet er sich als das Subjekt eines Lebens wieder, dem eine unbestimmte und nicht mit Notwendigkeit befristete Zukunft offensteht. Wie unvermeidlich der Tod auch sei, löscht er aus dieser Perspektive auf abrupte Weise all das mögliche Gute aus, das andernfalls in unbestimmtem Umfange hätte eintreten können. Daß unser Tod normal ist, hat damit offenbar nicht das Mindeste zu tun, denn aus der Tatsache, daß ein jeder von uns unausweichlich nach ein paar Dutzend Jahren sterben wird, folgt ja keineswegs, daß es nicht gut wäre, weiterzuleben. Gesetzt, es sei unausweichlich für uns alle, vor unserem Tod in Agonie zu verfallen – in eine sechs Monate anhaltende physische Agonie. Würde diese Aussicht auch nur um ein Jota weniger unangenehm aufgrund irgendeiner Unausweichlichkeit? Und warum sollte es sich dann mit dem beschriebenen Verlust eigentlich anders verhalten? Bei einer mittleren Lebenserwartung von tausend Jahren wäre es ja nachgerade eine Tragödie, im Alter von nur achtzig Jahren zu sterben. Vielleicht steht es so, daß diese Tragödie unter unseren heutigen Bedingungen nur um einiges verbreiteter ist. Gibt es kein Alter, von dem an es sich nicht mehr zu leben lohnt, mag es sein, daß uns allen ein schlechtes Ende bevorsteht.

      Übersetzt von Karl-Ernst Prankel, Ralf Stoecker und Michael Gebauer.

      Das Absurde

      Die meisten beschleicht hin und wieder das Gefühl, das Leben sei absurd, und einige Menschen haben dieses Gefühl ständig und mit großer Intensität. Allein, die Gründe, die man für gewöhnlich anführt, um diese Überzeugung zu rechtfertigen, sind gelinde gesagt unzureichend: Sie können gar nicht wirklich erklären, weshalb das Leben absurd ist. Warum machen sie sich dennoch als der natürliche Ausdruck unseres Gefühls geltend, daß es sich in der Tat so verhält?

      I

      Vergegenwärtigen wir uns ein paar typische Reflexionen. Oft hört man, daß nicht das Mindeste dessen, was wir so alles tun, in einer Million Jahren nicht egal sein wird. Wenn dem so ist, läßt sich der Spieß aber doch ebenso leicht umdrehen, und dann ist auch nicht das Mindeste dessen, was in einer Million Jahren sein wird, heute von Bedeutung. Unter anderem wäre es dann insbesondere auch egal, daß alles von dem, was wir heute tun, dereinst egal sein wird. Ja, und selbst wenn es so wäre, daß unser heutiges Tun jemandem in einer Million Jahren tatsächlich nicht egal Sein würde? Dann bliebe noch immer die Frage, warum hierdurch etwas, das uns heute beschäftigt, davor bewahrt würde, absurd zu sein: Was könnte es uns denn nützen, wenn etwas davon in einer Million Jahren für jemanden nicht egal wäre, wenn noch nicht einmal der Tatbestand, daß es heute nicht egal ist, ausreichte, unser Tun vor Absurdität zu retten?

      Die Frage, ob etwas, das wir heute tun, in einer Million Jahren bedeutend ist, markiert nur dann die entscheidende Differenz, wenn seine Bedeutsamkeit in einer Million Jahren von seiner Bedeutsamkeit schlechthin abhängt. Stellt man jedoch von vornherein in Abrede, daß irgend etwas dessen, was sich in unseren Tagen zuträgt, in einer Million Jahren von Bedeutung ist, begeht man eine Petitio principii gegenüber dieser zweiten Frage: Man verneint sie immer schon. Denn in diesem Sinne kann man gar nicht sicher sein, daß es in einer Million Jahren egal ist, ob (zum Beispiel) heute jemand glücklich oder unglücklich ist, wenn man nicht immer schon sicher ist, daß es schlechthin egal ist.

      Was wir vorbringen, wenn wir anderen die Absurdität unseres Lebens vor Augen führen wollen, kann häufig auch mit Raum oder Zeit zu tun haben: Schließlich sind wir doch alle nur winzige Staubkörnchen in den unendlichen Weiten des Alls; die Spanne unseres Lebens ist doch selbst nach erdgeschichtlichen, ganz zu schweigen von kosmischen Maßstäben nicht mehr als ein bloßer Augenblick; ja, wir werden doch alle jeden Moment tot sein. Aber natürlich kann keine dieser evidenten Tatsachen zur Folge gehabt haben, daß unser Leben absurd geworden ist, wenn es denn absurd ist. Nehmen wir dafür einmal an, wir lebten ewig. Wäre denn ein Leben, das bei einer Dauer von siebzig Jahren absurd ist, bei ewiger Dauer – nach Adam Riese – nicht: unendlich absurd? Und falls unser Leben bei unserer jetzigen Größe absurd ist, warum wäre dieses Leben weniger absurd, wenn wir statt dessen das ganze Universum ausfüllten (sei's, weil entweder wir größer, oder sei's, weil das Universum kleiner wäre als jetzt)? Derlei Reflexionen über uns kurzlebige Zwerge scheinen uns irgendwie in engem Zusammenhang mit dem Gefühl zu stehen, das Leben sei sinnlos, doch bleibt dabei völlig im Dunkel, worin dieser Zusammenhang überhaupt bestehen könnte.

      Ein drittes und nicht minder inadäquates Argument bringt vor, daß, weil wir ja alle einmal sterben werden, jede Rechtfertigungskette notgedrungen in der Luft hängen muß: Man lernt und arbeitet, um Geld zu verdienen, um sich damit Obdach, Nahrung, Kleidung und Vergnügen leisten zu können, um sich jahrein, jahraus also am Leben zu halten, vielleicht auch um eine Familie zu ernähren, eine Laufbahn einzuschlagen – aber was dann? All das, um dann letztendlich welchen Zweck zu erreichen? Das ganze ist eine kunstvoll gestaltete verschlungene Reise und führt doch – nirgendwohin! (Zugegeben, all das hat Auswirkungen auf das Leben anderer, aber dann wiederholt sich das Problem ja nur, da auch sie sterben müssen.)

      Auch dem läßt sich mancherlei entgegnen. Erstens geht das Leben nämlich nicht nur in einer Reihe von Aktivitäten auf, von denen jede eine weitere, spätere bezweckt. Rechtfertigungsketten finden im wirklichen Leben immer wieder ein Ende, und die Frage, ob sich der Lebensprozeß als ein Ganzes rechtfertigen läßt, spielt für die Endgültigkeit dieses Endens nicht die mindeste Rolle. Es bedarf schlicht keiner weiteren Rechtfertigung dafür, daß es vernünftig ist, gegen Kopfschmerzen eine Aspirintablette zu nehmen, die Ausstellung eines bewunderten Malers zu besuchen oder ein Kind daran zu hindern, den heißen Herd anzufassen. Auch ohne weiteren Kontext oder zusätzlichen Zweck sind derlei Handlungsweisen