»Ach, es wird schon bald wieder ins Lot kommen,« sagte Peggotty – ich meine wieder unsere Peggotty – »und außerdem, wissen Sie, ist es für Sie nicht unangenehmer als für uns.«
»Ich fühle es aber mehr«, sagte Mrs. Gummidge.
Es war ein sehr kalter Tag und draußen blies der Wind scharf und heftig. Mrs. Gummidges Ecke am Kamin schien mir zweifellos die wärmste und gemütlichste in der ganzen Stube zu sein, und ihr Stuhl war sicherlich der bequemste, aber sie fühlte sich heute nicht wohl darin. Sie klagte beständig über Kälte, weil sie ihr ein Leiden verursachte, das sie »ihr Schuddern« nannte, und zuletzt fing sie an zu weinen und sagte wieder, sie sei ein armes, verlassenes Geschöpf, und alles gehe ihr konträr.
»Ja, es ist recht kalt,« sagte Peggotty, »und das muß jeder fühlen.«
»Ich fühle es aber mehr als andere Leute«, sagte Mrs. Gummidge.
Ebenso war es bei Tische, wo Mrs. Gummidge immer unmittelbar nach mir bedient wurde, der als Ehrengast den Vorzug hatte. Die Fische waren klein und mager, und die Kartoffeln waren ein wenig angebrannt. Wir merkten alle, daß dies nicht besonders angenehm sei aber Mrs. Gummidge sagte, sie merkte es mehr als wir, und weinte wieder und gab ihre frühere Erklärung mit großer Bitterkeit zum besten.
Als daher Mr. Peggotty gegen neun Uhr nach Hause kam, strickte die unglückliche Mrs. Gummidge in einer sehr bedrückten und niedergeschlagenen Stimmung in ihrer Ecke. Peggotty hatte wacker mit ihrem Nähzeug gearbeitet.
Ham hatte ein Paar große Wasserstiefel ausgeflickt und ich hatte ihnen vorgelesen, während Emilie an meiner Seite saß. Ms. Gummidge hatte außer einigen vereinzelten Seufzern nichts von sich hören lassen und seit dem Tee die Augen nicht aufgeschlagen. »Nun, Mannschaft, wie geht's?« sagte Mr. Peggotty, während er unter uns Platz nahm.
Wir alle antworteten freundlich durch Wort und Blick, außer Mrs. Gummidge, die über ihrem Strickstrumpf den Kopf schüttelte.
»Wo fehlt's?« sagte Mr. Peggotty, die Hände reibend. »Nur munter und Kopf hoch, Alte!«
Mrs. Gummidge schien nicht imstande zu sein, sich aufzumuntern. Sie zog ein alles, schwarzseidnes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen; aber anstatt es wieder in die Tasche zu stecken, behielt sie es in der Hand, wischte sich noch einmal und noch einmal die Augen, und legte es neben sich, um es immer bereit zu haben. -
»Wo fehlt's denn, Alte?« sagte Peggotty wieder.
»Nirgends«, entgegnete Mrs. Gummidge. »Ihr kommt aus der fröhlichen Laune, Dan?«
»Nun ja, ich war einen Augenblick dort«, sagte Peggotty.
»Es tut mir leid, daß ich Euch immer ins Wirtshaus treibe«, sagte Mrs. Gummidge. ^
»Treiben? Bei mir braucht's kein Treiben«, erwiderte Peggotty mit herzlichem Lachen. »Ich gehe nur zu gern hin.«
»Nur zu gern«, sagte Mrs. Gummidge, schüttelte den Kopf und wischte sich die Augen. »Ja, ja, nur zu gern. Es tut mir nur leid, daß Ihr meinetwegen so gern hingeht.«
»Wegen Euch! wegen Euch gewiß nicht!« sagte Mr. Peggotty. »Davon braucht Ihr kein Wort zu glauben!«
»Ja, ja, ich weiß es wohl«, rief Mrs. Gummidge. »Ich weiß, daß ich ein armes, verlassenes Geschöpf bin und daß nicht nur mir selber alles konträr geht, sondern daß ich auch allen andern im Wege bin. Ja, ja, es geht mir alles mehr als andern Leuten zu Herzen, und ich zeige es mehr, und das ist nun mal mein Unglück.«
Während ich dies anhörte, konnte ich mich nicht des Gedankens entschlagen, daß das Unglück auch noch andere Mitglieder der Familie, außer Mrs. Gummidge, treffe. Aber Mr. Peggotty machte keine Bemerkung dieser Art, sondern bat nur Mrs. Gummidge noch einmal, munter und wohlgemut zu sein.
»Ich bin nicht so wie ich gern sein möchte«, sagte Mrs. Gummidge. »Ich bin sogar weit davon entfernt. Ich weiß das recht gut! Mein vieles Unglück macht mich unangenehm. Ich sichte mein Unglück so sehr, und das hat mich konträr gemacht. Ich wollte, es wäre nicht so, aber ich fühle es nun einmal. Ich wollte, ich könnte es vergessen, aber es geht nicht. Ich mache das Haus dadurch ungemütlich. Ich wundere mich nicht darüber, ich habe heute den ganzen Tag lang Eurer Schwester das Leben sauer gemacht und Master Davy dazu.«
Hier wurde ich plötzlich gerührt und rief in großem Seelenschmerze ein lautes: »Nein, nein, das haben Sie nicht getan, Mrs. Gummidge!«
»Es ist gar nicht recht von mir«, sagte Mrs. Gummidge. »Es ist kein schöner Dank. Ich sollte lieber ins Armenhaus gehen und dort sterben. Ich bin ein armes verlassenes Geschöpf und sollte hier nicht Verdrießlichkeiten machen. Wenn alles mit mir konträr geht und ich allen konträr bin, so will ich auch lieber davongehen und meiner Heimat zur Last fallen. Dan'l, es ist besser, ich gehe ins Armenhaus und sterbe, damit Ihr mich los seid!«
Mrs. Gummidge entfernte sich mit diesen Worten und begab sich zu. Bett. Als sie fort war, sah uns Mr. Peggotty, der bei jedem Worte die tiefste Teilnahme gezeigt hatte, der Reihe nach an, nickte mit dem Kopf und sagte mit einem Gesichte, auf dem sich immer noch das lebhafteste Mitleid ausprägte, im Flüstertone:
»Sie hat heute wieder an den Alten gedacht!« Ich verstand nicht recht, an was für einen Alten Mrs. Gummidge gedacht haben sollte, bis mir Peggotty, als sie mich zu Bett brachte, erklärte, daß es der selige Mr. Gummidge sei und daß ihr Bruder bei solchen Gelegenheiten steif und fest glaube, daß solch Gedenken an ihn Schuld sei an Mrs. Gummidges Traurigkeit, und daß solche Treue stets einen rührenden Eindruck auf ihn mache. Noch in der Hängematte hörte ich ihn zu Ham sagen: »Die arme Frau! Sie hat wieder an den Alten gedacht!« Und wenn Mrs. Gummidge während unseres Besuchs in ähnlicher Stimmung war, was ein paarmal geschah, so sagte er immer dasselbe zu ihrer Entschuldigung Und stets mit dem aufrichtigsten Mitleid.
So vergingen die vierzehn Tage rasch, mit keiner andern Veränderung, als dem Wechsel in der Flutzeit, die auch die Stunden immer anders regelte, zu denen Mr. Peggotty und Ham zur Arbeit ausgingen. Wenn Ham freie Zeit hatte, führte er uns manchmal zu den Schiffen, um sie uns zu zeigen und nahm uns auch ein paarmal zu einer Ruderfahrt mit. Ich weiß nicht, wie es kommt, daß sich gewisse Eindrücke mehr als andere gerade mit gewissen Örtlichkeiten besonders innig verknüpfen, doch wird das Wohl in der Kindheit bei den meisten Menschen der Fall sein. So kann ich nie das Wort Yarmouth lesen oder hören, ohne eines gewissen Sonntagsmorgens am Strande zu gedenken, wo die Kirchenglocken läuteten, die kleine Emilie an meiner Schulter lehnte, Ham lässig und verträumt Steine ins Wasser fallen ließ, und uns die Sonne, plötzlich aus schweren Nebeln über der See hervorbrechend, die Schiffe enthüllte, als wären's ihre eigenen Schattenbilder.
Endlich kam der Tag der Heimreise. Ich ertrug noch mannhaft die Trennung von Mr. Peggotty und Mrs. Gummidge, über der Abschied von der kleinen Emilie zerschnitt mir das Herz. Wir gingen Arm in Arm nach dem Wirtshause, wo der Fuhrmann ausspannte, und unterwegs versprach ich, ihr einen Brief zu schreiben.(Dieses Versprechen löste ich später in Buchstaben ein, die größer waren als die, mit denen man Vermietungsanzeigen zu schreiben pflegt.) Das Scheiden erschütterte uns sehr, und wenn ich jemals in meinem Leben eine Leere in meinem Herzen gesuhlt habe, so war es an diesem Tage.
Während der ganzen Zeit meines Besuchs war ich undankbar gegen das mütterliche Haus gewesen, und hatte wenig oder gar nicht daran gedacht. Aber kaum wendete ich ihm meine Schritte wieder entgegen, so wies auch vorwurfsvoll mein kindliches Gewissen mit standhaftem Finger dorthin, und ich fühlte es auch an dem Bangen, das mich überkam, daß es meine Heimat war und daß meine Mutter meine beste Trösterin und treueste Freundin sei.