Hinter rotem Stacheldraht. Klaus G. Förg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus G. Förg
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitzeugen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966000109
Скачать книгу
leeren Händen zurück. Das Brot für unsere Einheit ist schon gefasst. Erst wollen wir es gar nicht glauben, aber es ist schon so. Unser Brot ist fort. Alles Schimpfen hilft nichts.

      Wie Kriminalbeamte schnüffeln wir im Lager herum, aber die zwei Männer, die unser Brot haben, sind anscheinend auch so schlau wie wir. Die Suche verläuft ergebnislos. Wir sind also heute ohne Brot. Es klingt so harmlos, aber wir bekommen es umso härter zu spüren. Der Hunger nagt in den Därmen. Die dünne Suppe, von der man sagt, dass man bei vollem Pott eine Zeitung am Grunde des Geschirres lesen kann, stillt unseren Hunger auch nicht. Im Gegenteil, wenn die Suppe alle ist, hat man erst so richtig Appetit. Sie hat keinen Saft und keinen richtigen Geschmack. Es schauen mehr Augen rein als raus.

      Zu Rauchen haben wir auch nichts mehr. Jeden Tag in der Frühe werden wir ins Freie gejagt und müssen draußen bleiben, bis das ganze Haus geschrubbt ist. Es dauert oft fünf bis sechs Stunden.

      Die Landser gehen in dem parkähnlichen Garten spazieren und reden vom Essen und vom Heimfahren. Wir glauben immer noch an eine baldige Heimkehr. Im Garten darf kein Feuer gemacht werden. Wenn also einer wirklich irgendwelche Produkte hat, dann kann er sie nur roh essen. Ich habe aber doch einmal gesehen, wie drei Gefangene ein Kochgeschirr voll Kartoffeln kochten. Jeder hatte ein Brennglas in der Hand und hielt es über das Wasser. Es kochte und sprudelte, und man sah den Dreien die Freude auf den kommenden Genuss an.

      Einmal werden wir für einen Tag einem Arbeitskommando zugeteilt. Wir müssen mit so zwanzig Mann eine Grünanlage sauber machen. Bäume umsägen, Wege rechen und Papier auflesen. Jeder hat ein wenig Angst vor den schlagkräftigen Tschechen, noch dazu, weil eben nur ein Zivilist dabei ist.

      Meine Schusterei ist schon lange eingegangen, weil mir die Ahle gebrochen ist. Die feine Schnur nehme ich mit, um zu tauschen. Zu zweit sind wir eben dabei, einen Baum umzusägen, als ein junger Tscheche kommt, der bei uns stehen bleibt. Wir machen uns schon auf irgendeine Bosheit gefasst, als er fragt, ob wir Zigaretten wollen. So etwas ist noch keinem von uns passiert. Jeder bekommt eine. Nicht viel, aber der Mensch freut sich. Die Schnur hat mir der Aufseher für Tabak abgekauft und er fragt mich noch, ob wir etwas zu lesen wollen. Er nimmt uns mit in eine Bretterhütte und wirft uns einige Bücher raus. Und siehe da, »Mein Kampf«, der angebliche »Matthäus des 20. Jahrhunderts« (gemeint ist: Alfred Rosenberg »Der Mythus des 20. Jahrhunderts«), und »Befehle des Gewissens« (Hans Zöberlein »Der Befehl des Gewissens«) kommen zum Vorschein. Wir haben kein Gewissen und nehmen die Bücher mit.

      Zu Mittag bekommen wir eine Rindsblutsuppe mit Kartoffeln und dreihundert Gramm Brot. Ein kleiner Ersatz für das am Vortag Geklaute. Auf dem Weg zum Essen kommen uns deutsche Zivilisten entgegen, die mit dem Auto zur Arbeit gefahren werden und alle weiße Armbinden (mit »N« für Nemec, also Deutscher) tragen müssen. Wir winken uns zu, einer bedauert den anderen, aber ich glaube, dass wir auch nicht schlechter dran sind. Am Nachmittag arbeiten wir nur noch wenig, jeder ist schon so müde von der ungewohnten Arbeit.

      Eine Frau kommt, und wir fragen sie, wie es bei den Russen ist, die ja nun schon ein Vierteljahr da sind. »Ja«, meint sie, »die Deutschen waren auch nicht gut, aber sie haben sich für jede Arbeit erkenntlich gezeigt. Die Russen aber suchen in der ganzen Wohnung nach Essen oder Schmuck und legen sich dann noch mit den Stiefeln ins Bett, und man muss froh sein, wenn man selber seine Ruhe hat.«

      Es wird Abend, und wir kommen wieder ins Lager zurück. Ich bin zufrieden mit dem Tag, weil ich doch zu etwas Essen gekommen bin. Ludwig freut sich auch, als ich ihm den Tabak zeige. Es macht Spaß, sich nach der Suppe noch eine Pfeife zu stopfen und von zu Hause zu reden. Es macht uns Sorgen, dass wir von der Heimat nichts wissen und vor allem, dass sie zu Hause von uns nichts wissen. Nicht einmal, ob wir noch am Leben sind. Die Heimattreffen finden wieder statt, aber im engen Kreise. Ich treffe einen Maurer vom Rosenheimer Stadtteil Aisingerwies. Wir versprechen uns, dass derjenige, der zuerst nach Hause kommt, die Familie des anderen verständigen soll.

      Seit einigen Tagen ist in der Suppe, überhaupt im Wasser, Chlor. Die Russen haben es gegen die Seuchen angeordnet. Ob es hilft? Es werden wieder Untersuchungen durchgeführt. Die Mageren und Schwachen sollen nach Hause kommen, die anderen arbeiten. Ich nehme täglich zweimal ein kaltes Bad, weil Wasser zehrt, um die nötige Statur zu erlangen, aber es reicht nicht. Nur der Maurer schafft es. Ich bin froh, weil ich doch die Hoffnung habe, dass er sein Versprechen hält und meine Eltern verständigt. Er hat es auch getan und ich bin ihm heute noch dankbar.

      Wieder sollen wir zum Arbeiten nach Breslau, Königsberg oder Berlin kommen. Wir werden untersucht, neu eingeteilt und eingekleidet, natürlich nicht mit neuen Sachen. Jeder bekommt zwei Decken und einen Mantel, wenn nötig, Unterhose oder Hemd. Ohne Filzen läuft es natürlich nicht ab. Jeder muss seine Klamotten vor den Posten ausbreiten, die Taschen werden umgedreht, sogar die Schuhe müssen wir ausziehen, ob nicht etwas darin versteckt ist. Messer und Gabel dürfen nicht im Besitz eines Gefangenen sein. Ich habe mein Messer bisher immer durchgebracht, aber diesmal wird es gefunden. Der »Iwan« freut sich. Es verschwindet in seiner Tasche, obwohl er es abliefern müsste.

      Es dauert einige Stunden, bis wir fertig sind, dann werden wir von den übrigen abgesondert, und in der Nacht ist Abmarsch. Weit ist es nicht. Nur zehn Minuten, dann sind wir auf einem Abstellgleis. Eine lange Reihe von Waggons steht dort, und in jeden kommen sechzig Mann hinein. Es ist für alles gesorgt. Ein Küchen- und ein Vorratswagen sind auch dabei. Und natürlich ein Waggon für die Wachmannschaft. Wie die Heringe liegen wir beisammen und warten auf die Abfahrt. Es dauert bis in den Morgen. Keiner kann schlafen. Die Nerven sind überreizt und werden durch Rauchen beruhigt, soweit Rauchmaterial vorhanden. Ludwig und ich haben noch Tabakblätter. Sie sind grün und feucht. Wir legen sie in eine Blechdose, zünden einen Kerzenstumpf darunter an und rösten so die Blätter, bis sie trocken sind. Der Tabak ist furchtbar stark, aber er ist zu gebrauchen.

      Endlich fahren wir. Jeder ist froh darüber. Es ist alles egal, wenn wir nur irgendwohin kommen. Das ist immer noch besser als die Ungewissheit. Die Verpflegung ist während der Fahrt sehr unregelmäßig. Der Tagessatz wären sechshundert Gramm Brot und zweimal ein Viertelliter Suppe, also ein Trinkbecher voll. Bei Tag wissen wir selten, wohin es geht, dafür aber bei Nacht. Wir richten uns nach den Sternen und finden so unsere Fahrtrichtung heraus. Dass in dieser Richtung weder Breslau noch Berlin zu erreichen ist, haben wir am ersten Tag schon herausbekommen. Die meiste Zeit stehen wir. Die Nächte sind unangenehm, weil man nicht schlafen kann. Das Rollen der Räder schläfert uns nur ein. Bei Tag haben wir weniger dagegen. Vor allem weil man dann »fechten«, also betteln kann. Besonders um Tabak. Ludwig und ich machen eine Erfindung: Wir haben einen kleinen Beutel an einer langen Schnur befestigt, den wir durch das vergitterte Fenster schieben. Wenn er dann unten hängt, kann ein Vorübergehender Tabak hineintun. Wenn den ganzen Tag nur einer etwas reintut, dann reicht es wieder bis morgen. An der Schnur wird der Beutel wieder hochgezogen.

      Drei Tage haben wir Brot bekommen, jetzt ist es alle. Es gibt also nur noch Suppe. Zweimal einen Trinkbecher voll. Das Brot wird die Wachmannschaft verkauft haben. Wenn möglich, dürfen wir einmal am Tag aussteigen. Schon nach ein paar Schritten tun uns die Beine weh, wir werden müde und schwindlig. Außerdem sind wir bärtig und dreckig, weil man sich nicht waschen und rasieren kann.

      Irgendwann gelangen wir nach Ungarn. Unser Tabakgeschäft geht auch besser, obwohl der Posten den Beutel schon ein paar Mal abgeschnitten hat. Wir haben ihn aber schnell durch einen anderen ersetzt. Der Platz am Fenster wird jetzt stundenweise vergeben, damit jeder mal drankommt. Ich bin gerade am Fenster, als wir an einem Bahnhof halten. Na, das wird hoffentlich eine große Ernte für den Fischer geben. Die Leute steigen in ihre Züge, aber nicht in Personenwägen, sondern auf offene Güterwägen. Personenwägen sind anscheinend knapp. Mein Beutel geht auf Fangstation. Alles schaut, und ich mache die Geste des Rauchens. Der Beutel ist bald voll und ich ziehe ihn hoch. Eine Frau, die wie viele Ungarn deutsch spricht, sagt mir, ich soll am Fenster bleiben. Auf dem offenen Waggon erbettelt sie für uns Geld. Manche geben, manche nicht. Gerade will sie es mir heraufreichen, da macht der Zug einen Ruck, und wir fahren ab. So ein Pech. Beim nächsten Waggon hat sie dann das Geld übergeben und viele Gefangene damit glücklich gemacht – wenigstens ein bisschen.

      Wir halten auf freier Strecke und müssen für die Küche Wasser tragen. Zehn bis fünfzehn Mann, bewacht von einem Posten. Von einem