Hinter rotem Stacheldraht. Klaus G. Förg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus G. Förg
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitzeugen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966000109
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Auf jeden Fall hat er in Zukunft keine Waren mehr gesucht.

      Ein anderer Fall wurde mir folgendermaßen erzählt: Ein »Iwan«, so nennen wir die Russen, hat einen Wecker eingehandelt, und als dieser geklingelt hat, soll er mit der Maschinenpistole darauf geschossen haben, weil er eine Höllenmaschine darin vermutete. Überhaupt waren die Russen am Anfang gerne das Ziel unserer Witze, weil sie abends immer exerzieren und singen mussten, wobei wir ihnen zusahen. Sie sangen dabei immer das Gleiche.

      Seit einigen Tagen haben wir Stroh. Endlich einmal nicht mehr am blanken Boden schlafen! Ich fühle mich wie auf einer »Dunlopillo«-Matratze. Es ist warm in der Baracke, und das tut uns gut. Uns und den Läusen, die wir seit einigen Tagen haben. Gott sei Dank ist der Russe für derartige Fälle gerüstet. Es kommt eine fahrbare Entlausung, und das ganze Lager wird einer nach dem anderen langsam entlaust. Aber es hilft nicht viel, weil die nichtentlausten Kameraden die entlausten doch wieder anstecken. Ich habe noch ein paar Strümpfe, die ich dem russischen Heizer für eine Dose Zucker verkaufe. Wir haben jetzt auch eine eigene Bäckerei, in der ungefähr fünfzig Bäcker arbeiten.

      Jeder, der einen davon kennt, ist glücklich, weil er doch zumindest die Hoffnung hat, einmal ein paar Brocken zu ergattern. Das Brot wird jetzt nach russischer Art gebacken. Mit über fünfzig Prozent Wasser wird der Teig in eine Form gegeben, weil er sonst davonläuft, und dann gebacken. Die Form wird mit Fett eingerieben, damit das Brot wieder leichter herausgeht. Wenn kein anderes Fett zur Hand ist, wird Getriebefett oder Petroleum hergenommen. Der Geschmack ist dann dementsprechend grauenvoll. Das fertige Brot ist schwer und feucht. Sechshundert Gramm sind immer noch gut die Hälfte von dem tschechischen. Doch wird uns noch ein Teil abgezogen für die Verwundeten und Kranken außerhalb des Lagers, für die die Tschechen keine Verpflegung herausgeben wollen. Wir werden immer zänkischer, neidischer und misstrauischer.

      Jeder, der sich der Küche einer Hundertschaft nähert, wird mit Argusaugen beobachtet, ob er nicht etwas mitnimmt. Den Köchen wird sogar vorgeschrieben, wie oft sie die Suppe probieren dürfen. Kameradendiebstähle kommen vor, die dann wahrlich mittelalterlich bestraft werden. Es wird ein Stacheldrahtgeviert von einem Quadratmeter gebaut, das einen Meter hoch ist. Da hinein kommt der Dieb. Er kann sich nicht hinlegen und nicht anlehnen, sondern muss sich frei sitzend oder stehend von früh bis abends, bei Sonne oder Regen, darin aufhalten mit einem Schild um den Hals, auf dem steht: »Ich bin ein Dieb!« Die Landser fangen an, sich selber zu beschäftigen, soweit sie dazu Geschick haben. Manche verschönern ihre Baracke, die dann aussieht wie eine Almhütte. Sie schnitzen dazu Reh- oder Hirschgeweihe aus Holz. Andere machen Mosaikbilder aus Steinen, wieder andere schnitzen Schachfiguren. Es sind wahre Künstler dabei. All die Sachen werden in einer Ausstellung gezeigt und manches Stück von den Russen gekauft.

      Einige von uns haben noch tschechische Kronen, aber die wenigsten wissen, dass sie noch einen Wert haben. Abertausende von Kronen sind als Klopapier in die Latrine gewandert, bis einmal Zivilisten vorbeikamen, die uns Käse verkaufen wollten. Dabei stellte sich heraus, dass unser Geld noch gültig war. Schon ein paar Tage danach war kein Kronenschein mehr in der Latrine zu sehen.

      Heute ist Filzung. Unser Lagerteil mit 15 000 Mann wird auf die andere Seite getrieben, und die Russen suchen unseren Teil nach Waffen, Munition oder was weiß ich ab. Dann muss sich jeder Mann einer Leibesvisitation unterziehen. Das Ganze dauert einen gesamten Tag. Wir hocken herum, schimpfen und murren, aber es wird davon nicht besser.

      Den ganzen Tag haben wir nichts zu essen. Erst abends, schon bei Dunkelheit, ist »Fütterung«. Seit Tagen geht immer ein Trupp zum Bahnhof, um Kartoffeln zu holen. Einmal bin ich auch dabei. Wir gehen immer zu fünft nebeneinander. Vor mir tanzt einer aus der Reihe, um Kippen zu suchen. Da kommt ein Tscheche daher und gibt dem Landser eine Ohrfeige, sodass er hinfällt. Aber schon ist ein russischer Posten da und haut dem Tschechen den Gewehrkolben ins Kreuz. Der weiß gar nicht, wie ihm geschieht und verdrückt sich, so schnell er kann.

      Beim Kartoffelholen fällt immer etwas ab, um privat ein Menü zu kochen. Aber die Kontrollen sind streng. Am Anfang haben wir die Kartoffeln einfach eingesteckt, später in Scheiben geschnitten und in Schuhe oder unter Kragen und Aufschläge geschoben. Als sie dort auch nicht mehr sicher waren, hat man sie aufgerieben und in die Feldflasche gefüllt. Man brauchte das Gemisch dann nur mehr der heißen Suppe beizumengen, um sie dicker zu machen.

      Einmal haben wir Besuch vom »Freien Deutschland«, einer Organisation, die von Deutschen in Russland gegründet wurde. Zu uns spricht ein Major Roth von einer Gebirgsdivision, ein Ritterkreuzträger. Es kann ein, zwei oder drei Jahre dauern, bis wir heimkommen, sagt er, aber einmal dürfen wir nach Hause. Er wird ohne Kommentar von uns zu den Wahnsinnigen gezählt, der sich schämen soll, zu seinen Landsleuten so etwas zu sagen.

      Jetzt werden abends immer Heimattreffen veranstaltet. Alle Bayern, Schwaben oder Rheinländer beispielsweise treffen sich an einem bestimmten Platz und mancher hat schon einen Bekannten, sogar seinen Bruder, ja, Vater und Sohn getroffen. Hier werden die Geschichten erzählt, die einer gehört oder gesehen hat.

      Alles dreht sich nur um die baldige Heimkehr, denn wir sind ja nun schon bald acht Wochen hier. Aber es wird uns doch ein starker Dämpfer aufgesetzt, als einmal ein Lastwagen mit Landsern kommt, die bei den Amis und teilweise sogar schon zu Hause waren. Die werden sich wundern, wie es bei uns zugeht. Das Kohldampfschieben wird immer ärger. Die Landser stehen oder sitzen gruppenweise beisammen und sprechen nur noch vom Essen. Wie gebannt starren die Zuhörer auf den Mund des Erzählers, wenn er ihnen erklärt, wie Dampfnudeln, Apfelstrudel oder Königsberger Klopse gemacht werden, und schlucken von Zeit zu Zeit das aufkommende »Hochwasser« hinunter, denn unser Essen ist im Wesentlichen wirklich zum Kotzen. Jedermanns Wunsch ist, endlich einmal wieder genug essen zu können. Bis jetzt ist es immer noch so, dass man nach dem Essen erst richtig Hunger hat. Die sechshundert Gramm Brot werden immer auf einmal gegessen. Es ist so schwer, weil das Brot nicht größer ist als bei uns zweihundert Gramm.

      Jeder möchte gerne zum Arbeitskommando, weil er Hoffnung hat, etwas zu ergattern. Am nächsten Morgen soll ich mit siebzig Mann auf ein tschechisches Gut zum Arbeiten gehen. Ein Kumpel gibt mir eine Aktentasche mit zum Verschachern. Er will Brot und etwas Butter dafür. Ich nehme sie mit. In der Frühe fahren wir los und haben kaum auf dem Lastwagen Platz. Nach fünf Kilometern sind meine Beine wie abgestorben, weil ich an der Bordwand stehe.

      Zuerst fahren wir zu einer Brauerei und laden ein Fass Bier auf. Ich habe plötzlich friedensmäßige Gedanken und sehe mich hemdsärmelig im Wirtsgarten sitzen. Wenn uns Gott und vor allem der Posten wohl ist, dann kommen wir zu einem halben Liter Bier. Endlich sind wir am Gutshof. Zuerst wird das Fass abgeladen und in einen Keller getragen, wo sonst nur Kartoffeln gelagert werden. Ich bin auch bei den Trägern, weil ich wissen muss, ob das Bier ordnungsgemäß untergebracht wird. Der liebe Gott hat uns den besten Wachmann gegeben, den man sich denken kann. Er teilt sofort zwei Mann ein, die den ganzen Tag nur kochen sollen. Eine Küche ist vorhanden, und die Kartoffeln sind beim Bier im Keller. Grünzeug wird bei den umliegenden Gärten unter dem Schutze des Postens organisiert. Die Kartoffeln im Keller werden in eine Brauerei gebracht. Gott hat mein Flehen erhört, ich bin bei den Kartoffelträgern und bei dem Fass, das der »Iwan« schon angezapft hat. Er verbietet uns zu trinken, aber wir sind zehn Mann und einer steht immer Schmiere. Wir saufen, was das Zeug hält. Die Wirkung zeigt sich bald, weil keiner mehr Alkohol gewöhnt ist und jeder einen leeren Magen hat.

      Nach zwei Stunden gibt es schon das erste Essen. Jeder Mann bekommt einen anständigen Schlag Kartoffelstampf. Die Arbeit schmeckt nachher schon viel besser. Besonders uns, weil wir noch etwas zum Nachtrinken haben. Beim Mittagessen verkaufe ich an eine deutsche Frau, die mit einem Tschechen verheiratet ist, die Aktentasche für Brot und eine kleine Dose Butter. Danach werden wir neu eingeteilt. Ich muss allein mit zwei Tschechenmädels aufs Feld zum Heumachen. Ganz wohl ist mir dabei nicht, weil sie mich möglicherweise schikanieren. Aber nichts dergleichen. Wir lachen uns manchmal etwas verlegen an und werfen mit unseren Sprachkenntnissen herum. Die Zeit vergeht dabei rasch und im Nu ist Vesper. Sie teilen mit mir ihr Brot und den Kaffee. Ich bin überrascht, dass es bei den Tschechen auch gute Menschen gibt. Bevor wir abfahren, füllen wir noch einmal unser Kochgeschirr mit Kartoffelbrei.

      Der Tag heute hat sich wirklich gelohnt. Jeder ist vollgefressen, und wir haben auf dem Auto deutlich weniger Platz