Hinter rotem Stacheldraht. Klaus G. Förg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus G. Förg
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitzeugen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966000109
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dunkel, als wir ankommen. Hunger hat keiner mehr. Die meisten schenken ihr Abendessen her, weil sie ja noch den Topf voll Kartoffeln haben. Ich mache es umgekehrt, gebe die Kartoffeln weg und hole mir das Abendessen, weil ich starkes Sodbrennen habe und froh bin, einen anderen Geschmack zu bekommen. In der Suppe ist doch ab und zu eine Faser Fleisch zu finden. Mein Kamerad wartet auch schon auf das Brot und die Butter. Ich gebe ihm beides. Gerade will er sich eine anständige Scheibe mit Butter bestreichen, als ich ihn fluchen höre. Neugierig gehe ich hin und frage ihn, was los sei. So eine Sauerei. Die Butterdose ist mit Papier gefüllt und nur oben ist ein bisschen Butter. Die Butter reicht nicht einmal für eine Scheibe Brot. Wir wünschen dieser Kanaille, die das verbrochen hat, jede nur erdenkliche Krankheit an den Hals. Sie soll sich schämen, einen Kriegsgefangenen so zu hintergehen. Noch dazu eine Deutsche.

      Es sind Gerüchte im Umlauf, dass wir bald wegkommen. Die unsinnigsten Parolen sind wieder im Gange. Die einen sagen nach Breslau, die anderen nach Königsberg. Aber dass wir weiterziehen, ist bestimmt wahr, weil wir wieder einmal nach allen Regeln der Kunst durchsucht werden. Alles, was wir nicht unbedingt brauchen, wie ein zweites Paar Socken oder eine Hose in Reserve, ein Taschentuch, ein Halstuch, alles wandert in die immer leeren Säcke der Russen.

      Und eines Tages werden schon in aller Frühe 2000 Mann in Marsch gesetzt. Unser Ziel kennen wir nicht. Als Marschverpflegung bekommen wir sechshundert Gramm Brot und für zehn Mann eine kleine amerikanische Fleischdose mit dreihundertfünfundzwanzig Gramm, für jeden Mann also 32,5 Gramm. Wahrlich ein lukullisches Essen. Mittag rasten wir an einem kleinen See, dann geht es weiter. Die Landser halten sich nicht mehr an die Kolonne, sondern schwärmen aus und nehmen auf den Feldern mit, was irgendwie essbar ist: Kraut, Rüben und Kartoffeln, soweit sie schon einigermaßen reif sind.

      Es ist also doch so, wie der Offizier damals gesagt hat: Wir werden das Land verwüsten. Wenn ein Heuschreckenschwarm diese Straße entlanggezogen wäre, dann könnte es auch nicht schlimmer sein. Die Posten kümmern sich wenig um unsere Plünderei, sie suchen immer noch nach guten Schaftstiefeln. Abends machen wir am Rande einer Ortschaft Halt. Die Küchen werden aufgestellt, die Tschechen müssen mit Brennzeug aushelfen, dann wird gekocht. Fast alle geklauten Produkte kommen in den Topf. Bei unserer Hundertschaft hat sich ein Huhn verlaufen, das eine halbe Stunde später auch schon in der Suppe liegt. Der Posten weiß es, aber wir haben ihm einen Schlag Essen versprochen, wenn er den Mund hält. Auch der Posten hat Hunger, außerdem ist noch keiner von ihnen an Überfütterung gestorben. Wir schlafen einigermaßen gesättigt unter freiem Himmel auf dem blanken Boden, weil keiner eine Decke hat und die wenigsten einen Mantel.

      Am anderen Morgen geht es weiter. Gegen Mittag kommen wir nach Iglau. Wir haben Kohldampf vom vielen Gehen, aber kein Mensch hat dafür Verständnis. Die wenigen Deutschen, die noch hier sind, haben selber Hunger, und die Tschechen erfreuen sich an unserer Lage. Als wir schon weiter in der Stadt sind, verlangt der »Iwan«, dass wir singen. Wir tun es, schon den Tschechen zum Trotz. Es geht mit Gesang an einer Kaserne vorbei, wo schon wieder tschechische Soldaten sind, aber mit deutschen Afrikauniformen und Waffen.

      Ein Leutnant kommt aus dem Tor gerannt und brüllt: »Aufhören, aufhören, deutsche Schweine!« Aber als er noch eine drohende Gebärde macht und Steine in unseren Haufen werfen will, kommt unser Posten, stellt sich mit aufgepflanztem Seitengewehr vor ihm hin und macht ihm deutlich, dass er hier zu verschwinden hat. Der Offizier verdrückt sich. Der Posten ist überhaupt auf die Tschechen nicht gut zu sprechen. Schon als wir in die Ortschaft einmarschiert sind, ist er in einen Bäckerladen gegangen und hat eine ganz große Tüte voll Gebäck verlangt. Als die Bedienung Geld wollte, hat er aus der offenen Tür geschossen. Wir glaubten schon, es sei was passiert, bis er dann lachend mit der Tüte in der Hand aus der Türe kam.

      Auch jetzt, als wir über eine Brücke gehen und ein Mädchen unten Gänse hütet, kommt unser »Iwan« und schießt von der Brücke aus in die Herde. Er trifft aber nicht und flucht. Das Mädchen weint vor Angst und auch, weil ihr die ganze Herde abgehauen ist.

      Am Abend erreichen wir eine große Wiese, und es regnet. Essen gibt es keines. Die Russen sind müde, und tschechische Soldaten übernehmen die Wache. Gnade Gott, die Singerei müssen wir schwer büßen. Sie treiben uns wie eine Herde Schafe ganz eng zusammen, sodass keiner richtig sitzen oder liegen kann. Zum Schlafen kommt sowieso keiner, weil der Boden vom Regen patschnass ist. So stehen wir frierend fast die ganze Nacht, und die Nässe läuft uns ins Genick und an den Beinen hinunter in die Schuhe. Keinem ist es erlaubt, die Notdurft außerhalb des Kreises zu verrichten, und wir pissen uns gegenseitig an den Beinen vorbei. Nicht wenige fallen vor Schwäche um. Aber keiner von den Posten kümmert sich darum und wir können ihnen auch nicht mehr helfen, als sie hinzulegen und zu warten, bis sie durch die Nässe wieder aufwachen. Diese Nacht scheint kein Ende zu nehmen, und wir schauen voll Sehnsucht immer wieder nach Osten, ob es nicht bald hell wird.

      Endlich ist es so weit. Die alte Leier geht wieder los. Aufstellen zu Hundertschaften, abzählen, dann ohne Tritt Marsch. Essen wird in die Luft geschrieben. Es ist nun schon vierundzwanzig Stunden her, dass wir etwas Warmes gehabt haben. Bis Mittag wird marschiert, dann sind wir am Ziel. Wir kommen nach Deutschbrod, einem Städtchen in Ostböhmen, in ein ehemaliges SS-Lazarett. Schon um die Mittagszeit sind wir dort, aber wir müssen erst entlaust werden, ehe wir hineindürfen. Stundenlang lungern wir herum, bis der ganze Haufen von 2000 Mann durch ist. Die Leute, die dort arbeiten, eben auch Gefangene, lassen den Obergefangenen raushängen, und wenn man die Klamotten nicht richtig an den Haken hängt, dann werfen sie einem das ganze Zeug vor die Füße.

      So wird es Spätnachmittag, bis wir ins Lager dürfen. Am Eingang ist eine Musikkapelle mit weißen Westen und Mützen aufmarschiert und spielt zu unserem Empfang. In Fünferreihen marschieren wir vorbei und die Russen zählen. Beim »Iwan« wird immer in Fünferreihen gezählt, weil er sich so leichter tut. Der gewöhnliche Russe ist ein schlechter Rechner. Bei einer Dreierkolonne müsste er drei, sechs, neun zählen und das wäre zu kompliziert. Wir sind alle drinnen und kommen auf einen freien Platz, wo die Filzung vor sich geht. Wieder einmal wird alles um und um gedreht, ob nicht doch noch etwas zu finden ist. Manche haben noch ihre Orden und Ehrenzeichen, ein zweites Hemd oder eine Hose. Neben mir ist einer, der noch einen halben Eimer voller Zigaretten hat, obwohl er Nichtraucher ist. Er wollte wohl warten, bis die Kurse höher sind, jetzt haben die Russen die Zigaretten konfisziert.

      Ich bin fertig und gehe in die befohlene Richtung hinter einem Leidensgenossen her, der eine lange Pfeife raucht. Ganz gierig nach etwas Rauchzeug gehe ich nahe hinter ihm, um wenigstens noch den Geruch zu haben.

      Er bemerkt das und dreht sich um.

      »Wo bist du denn her?«

      »Von Rosenheim, und du?«

      »Von Burghausen!«

      »Willst du einen Zug machen?«

      Ich freue mich, dass er ein Bayer ist, und will natürlich einen Zug machen. Tief ziehe ich den Rauch ein. Mir wird ganz schwindlig. Wir wollen beisammen bleiben. Ich will sowieso von meiner alten Hundertschaft weg, damit ich mit Ludwig nicht mehr zusammenkomme. Mein neuer Kumpel heißt auch Ludwig und wir suchen uns eine Schlafstätte. Der zugewiesene Platz ist viel zu klein. Wir liegen wie die Heringe, keiner kann sich umdrehen, und wenn man hinaus will oder vielmehr muss, dann tritt man auf Füße, Schenkel, Bäuche und Köpfe der Kameraden, was einem dann wieder Fußtritte und Flüche der Betroffenen einbringt. Um diesem Übel aus dem Weg zu gehen, sind Ludwig (der II!) und ich auf den Speicher gezogen, wo mehr Platz ist. Strohsäcke oder Decken gibt es natürlich keine. Alle liegen auf dem harten Boden. Unsere Hüftknochen tun weh, und jeder ist schon an den Seiten offen. Kein Wunder, wenn kein Fettpolster mehr da ist. Die Verpflegung hat sich ja leider nicht zum Besseren gewendet. Zweimal Suppe am Tag, einmal sechshundert Gramm Brot, nass und schwer.

      Gestern haben sie wieder einmal einen verdroschen, weil er als guter Kamerad immer einem anderen das Essen mitgenommen hat, und bis er in den zweiten Stock gekommen ist, hat er aus dem anderen Pott die ganzen Fleischbrocken rausgegessen. Dabei haben sie ihn erwischt, und er hat Dresche bezogen, sodass er mir fast leid tut. Es kommt aber noch besser. Jeden Tag in der Frühe müssen von jeder Hundertschaft zwei Mann Brot fassen. Sie gehen an den Brotschalter, bewaffnet mit einer Decke,