Hinter rotem Stacheldraht. Klaus G. Förg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus G. Förg
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitzeugen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966000109
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die Beine und vor allem die Lunge hergeben wollen. Die Tschechen hinter uns veranstalten das reinste Hasentreiben. Mit Gejohle wird jeder unserer Toten und Verwundeten von ihnen quittiert. Wir können schon bald nicht mehr und drängen immer mehr nach rechts, vom großen Haufen weg, machen einen weiten Bogen und laufen zum Schluss sogar wieder in östliche Richtung. Ich bin am Ende meiner Kraft, meine Lunge sticht furchtbar.

      Die Frauen wollen schon lange aufgeben, aber wir ziehen sie an den Händen mit. In einem Gebüsch legen wir uns nieder und wollen warten, bis die Dunkelheit hereinbricht, um dann die Wanderung wieder aufzunehmen. Ich habe auf dem Weg ein gutes Fernglas gefunden und suche nun mit ihm die Gegend ab. Fast sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Flucht. Ich sehe die Straße, die in den Ort führt. Ein Omnibus kommt noch daher, das rote Kreuz an den Seiten ist deutlich zu sehen. Er wird von Halbwüchsigen zum Halten gebracht. Rund dreißig Rotkreuzschwestern steigen aus. Ich kann die Gedanken der Burschen genau erraten. Aber auch die Gedanken der Schwestern.

      Langsam wird es dunkel, deshalb wollen wir aufbrechen und weiter nach Westen wandern. Vielleicht kommen wir durch. Wir sind wieder ganz gut aufgelegt, machen uns gegenseitig Mut und marschieren, uns nach den Sternen richtend, los. Unterwegs stoßen wir noch auf eine Gruppe Soldaten, denen die Flucht zu beschwerlich ist und die sich den Tschechen stellen wollen. Sie fragen uns, ob wir mitmachen wollen. Wir wollen natürlich nicht. Freiwillig nie! Wenn sie uns schnappen, dann haben wir Pech gehabt. Also gehen wir weiter und kommen an einen Bach, suchen eine Brücke, um hinüberzukommen. Die Brücke ist bald gefunden. Aber mit dem Hinüberkommen wird es nichts, weil sie von einem Posten bewacht wird. Zum Glück hat er uns nicht bemerkt. Wir schleichen wieder zurück, bis wir sicher sind, nicht mehr bemerkt zu werden, ziehen unsere Schuhe aus und waten, die Frauen auf dem Rücken, auf die andere Seite. Das Gepäck wird nachgeholt. Es geht immer weiter nach Westen. Wir rechnen uns schon aus, wann wir an der Grenze sind und freuen uns, dass alles so glatt geht.

      Bald kommen wir an eine schöne, breite Straße, wie eine Autobahn, die, so glaube ich, Prag mit Brünn verbindet. Ein Auto nach dem anderen fährt an uns, die wir an der Böschung liegen, vorbei. Jetzt warten wir, bis sich eine Lücke zwischen den Fahrzeugen auftut, um schnell über die Straße zu kommen. Aber das dauert lange. Endlich ist es so weit. Ein kleiner Abstand zwischen zwei Fahrzeugen, die mit offenem Licht fahren, wird ausgenutzt, und wir rennen los. Aber das nachfolgende Auto hat uns schon im Scheinwerfer. Es ist schneller da, als wir glauben. Wir hören noch die Bremsen, die »Stoz«-Rufe der abspringenden Soldaten. Wieder rennen wir, als ob es um unser Leben ginge. Als sie uns noch mit ihren Maschinenpistolen nachschießen, werfen die Frauen das ganze Gepäck weg, um besser laufen zu können. Nur der kleine Koffer mit den Papieren ist ihnen geblieben. Später wird es einmal heißen: Ihr habt nichts gehabt, als ihr zu uns gekommen seid. Unsere Hände und vor allem die Füße zittern vor Aufregung. Eine kleine Pause wird eingelegt, eine Zigarette geraucht, dann geht es wieder besser. Es wird schon langsam hell, und wir wollen noch bis zu einem Wald kommen, wo wir den Tag über bleiben können. Gerade haben wir die Wache eingeteilt und wollen schlafen, als uns erneut ein Motorengeräusch in Aufregung versetzt. Wir schleichen uns näher heran, um auch sehen zu können, wer es sei. Es ist nicht zu glauben, es ist eine deutsche Einheit der Luftwaffe. Wie die Trauben hängen die Soldaten an den Fahrzeugen.

      Aber wo so viele Platz finden, machen wir vier auch keinen Unterschied mehr. Wir schreien wie verrückt vor Freude. Jeder springt schnell auf ein Fahrzeug, wird von den Kameraden hochgezogen und schon geht es weiter. Mein Kamerad Ludwig und ich liegen auf dem Dach eines »Sanka«, wo schon drei sind, also zu fünft nebeneinander.

      Wir halten uns gegenseitig fest, damit keiner hinunterfällt, besonders ich, weil ich der Äußerste bin. Die beiden Frauen kommen anderweitig unter, und wir haben sie seit dieser Stunde nicht mehr gesehen.

      In der nächsten Ortschaft hören wir, dass wir noch fünfundzwanzig Kilometer zu fahren haben, bis wir an der russischen Linie ankommen. Wir sind schon neugierig, wie sich die Russen verhalten werden. Schließlich haben wir ja schon so vieles gehört, dass wir nicht wissen, was wir glauben sollen. Waffen oder Munition habe ich schon lange keine mehr. Es kann also nicht so schlimm werden.

      Als wir an die russische Linie kommen, ist weit und breit kein Russe zu sehen, nur Tschechen. Ich springe vom Fahrzeug, dabei rutscht mir der Ärmel meiner Feldbluse zurück. Meine Armbanduhr kommt zum Vorschein, und schon ist so ein hinterhältiger Kriegsgewinnler der Tschechen da, schreit mir sein »Urre Urre« in die Ohren, dabei hat er schon so sechs, acht Stück am Arm.

      Ich mache meine Uhr los und werfe sie ihm vor die Füße. Er schimpft mich ein deutsches Schwein, beeilt sich aber doch, die Uhr an sich zu nehmen. Es geht weiter nach vorne. Noch ein Tscheche kommt mit einer Maschinenpistole und fordert mein Fernglas. Na, das kann er haben. Ich hab es ja auch billig bekommen. Endlich bin ich beim russischen Posten angelangt. Jeder Einzelne wird genau untersucht und abgetastet. Später ist dafür der Name »filzen« aufgekommen. Er schaut in meine Rucksacktaschen und lacht, als er die fünfundzwanzig Pfund Speck sieht, die als Marschverpflegung drin sind. Der Speck wechselt tatsächlich nicht den Besitzer, dann werde ich weitergelassen. Ich sehe auch viele, die nur Handtuch und Seife behalten dürfen.

      Wir werden zu Haufen von eintausend Mann aufgestellt. Von einigen Posten begleitet geht es zu Fuß weiter. Ich bin wieder mit Ludwig beisammen, aber das Marschieren geht uns auf die Nerven. Die Gerüchte, die sich verbreiten, sind beunruhigend. Man spricht von Lagern und dass wir erst in einem halben Jahr heim dürfen. So lange wollen wir keinesfalls warten. Also machen wir uns auf den Weg und verschwinden bei der nächsten Gelegenheit im Wald. Es fällt keinem auf, die Posten geben nicht Acht. Sie haben nur Augen für schöne lederne Schaftstiefel. Mancher muss seine Stiefel ausziehen, wenn es sein muss mit Gewalt, und bekommt ein paar alte dafür, ob sie passen oder nicht. Aber auch mancher Russe läuft herum, als ob ihn ein Ochse getreten hätte, weil ihm die schönen »Beuteschuhe« zu klein sind.

      Wir schleichen quer durch den Wald, kommen auf eine befestigte Straße und stoßen auf einen Flüchtlingstreck. Unsere Freude darüber ist groß, und wir hoffen, dass sie uns mitnehmen wollen, noch dazu, weil der Treck nach Bayern unterwegs ist. Jeder wird in Zivil eingekleidet. Ich bekomme eine Seemannshose und gebe mich als Kutscher aus. Ein Zivilist muss einen Beruf haben. Die Leute hier haben Geld, aber die Tschechen verkaufen nichts. Finster und drohend werden wir in den Dörfern gemustert. Bis zum Abend gibt es keinen Zwischenfall, dann richten wir uns neben der Hauptstraße für die Nacht ein. Um sicher zu gehen, legen wir uns zwanzig Meter von der Straße entfernt in ein Gebüsch. Es ist schon dunkel, als noch eine Kompanie Kosaken vorbeizieht. Keiner kümmert sich um den Treck, bis auf den Letzten. Er schaut auf einen Wagen, zieht die Plane weg, wo eine vierzigjährige Frau ruht. Sie wird aufgeweckt und muss mitkommen. Wir sehen sie im Vorbeigehen. Die Frau weint und sträubt sich, aber es hilft nichts. Und wir? Wir sind froh, dass er uns nicht sieht.

      Keine Minute danach schreit ein dreizehnjähriges Mädchen nach ihrer Tante. Sie läuft in die Richtung, wohin die beiden gegangen sind. Mit einem Mal hören wir erschütterndes Schreien, wie nur ein Mensch in höchster Not es kann, bis das Schreien dann langsam in ein verkrampftes Wimmern übergeht. Wir sind aus unseren Decken gefahren und aufgestanden, können aber nichts sehen. Erst nach einer Weile kommt die Frau mit dem Mädchen engumschlungen zurück. Beide weinen, und wir ahnen, was ihnen widerfahren ist.

      Am nächsten Tag geht es weiter. In einer Ortschaft werden wir kontrolliert. Der Treckführer erstattet Meldung, dass wir zwei Soldaten sind und nicht zum Treck gehören. Ehe wir überhaupt zum Denken kommen, haben uns zwei Mann in die Mitte genommen, und wir müssen wohl oder übel mitgehen. Nach einigen Minuten sehen wir schon, wo wir hinkommen. Es ist ein großer freier Platz am Rande der kleinen Ortschaft Pacov, das erste Kriegsgefangenenlager, das ich zu sehen bekomme.

      Statt eines Stacheldrahtes stehen junge Tschechen mit deutschen Karabinern Wache. Alle zwanzig bis fünfundzwanzig Meter einer. Sie kommen sich sehr wichtig vor, und alle Augenblicke brüllt einer wegen irgendeiner Kleinigkeit, reißt den Karabiner von der Schulter, bloß damit wir Angst vor ihnen haben. Die Kameraden, die schon ein oder zwei Tage hier sind, kennen das schon und lachen nur mehr, was die Posten dann wiederum maßlos ärgert. Jetzt gehören wir also auch zu dem Haufen. Bis jetzt werden es ungefähr 10 000 Mann sein, die hier im Freien ohne Lager, Strohsack, Decke oder Zelt die Tage und Nächte