Hinter rotem Stacheldraht. Klaus G. Förg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus G. Förg
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitzeugen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966000109
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geht es einigermaßen. Schon ab dem zweiten Tag bekommen wir täglich sechshundert Gramm Brot und zweimal Suppe. Suppe ist eigentlich zu viel gesagt, es ist warmes Wasser mit ein bisschen Mehl oder Brennnesseln darin gekocht. Aber immerhin ist der gute Wille seitens der Russen zu sehen, und es ist keine Kleinigkeit, für so viele Menschen plötzlich Verpflegung zu beschaffen. Man erzählt sogar, dass die ansässigen Bäcker für uns Brot backen müssen und dass für die Zivilisten deshalb keines mehr da ist. Wenn man die Gesichter der Posten bei der Brotverteilung anschaut, dann kann man das beinahe glauben. Sie glotzen wie verbrannte Wanzen.

      Ich bin das ganze Lager abgegangen, von Posten zu Posten, aber ich habe kein Loch gefunden, wo man durchkommen könnte. Sogar ganze Trecks sind hier im Lager mit Frauen und Kindern. Gleich am ersten Tag, als ich mich zum Schlafen hinlege, so wie ich eben bin, ohne Mantel oder Decke und auf dem blanken Boden, kommt eine junge Frau auf mich zu und fragt, ob ich keine Decke habe. Ich verneine.

      »Ich habe Angst vor den Russen. Möchtest du mit zu mir kommen? Ich fühle mich dann sicherer.«

      Ich gehe mit, gebe ihr aber zu verstehen, dass ich ihr auch nicht helfen könne, wenn die Russen kommen und sie holen. Es ist aber nichts passiert.

      Am Tage geht man spazieren, horcht, ob es etwas Neues gibt und wartet von einer Suppe auf die andere. Bei mir und Ludwig ist der Hunger noch nicht groß, weil wir ja noch den Speck im Rucksack haben. Einer von uns muss immer dabei Wache stehen, damit uns der Speck nicht geklaut wird. Die Suppe essen wir gemeinsam aus Ludwigs Kochgeschirr, das er sich organisiert hat. Ich wollte mir auch eines aneignen, aber ich traute mich nicht mehr, weil schon einige wegen Diebstahls verprügelt worden sind. Ich muss mich halt mit einer Konservendose behelfen. Vielen bleibt nichts anderes übrig, als aus einer rostigen Dose ihr Essen zu schlürfen. Sogar ein Major kocht für sich allein an einem kleinen Feuer in einer Konservendose Brennnesselsuppe. Ganz andächtig rührt er um, wahrscheinlich, damit sie nicht anbrennt, gibt Salz dazu und probiert. Ja, mein Lieber, vor vier Wochen hättest du dir das nicht träumen lassen, dass du heute dein eigener Koch bist. Er geniert sich ein bisschen vor mir, und ich gehe wieder.

      Decke habe ich noch keine, aber dafür einen Fallschirm gefunden bei einem meiner Rundgänge. Ich kann ihn gut brauchen, weil ich jetzt allein bin. Die Flüchtlinge haben das Lager verlassen müssen. Ich danke dir, Mädchen, es waren doch noch ein paar schöne Tage mit dir. Ein Zivilist, der bei einem Treck dabei war, streitet mit einem russischen Offizier und verlangt seine sofortige Freilassung. Der Offizier geht gar nicht darauf ein, sondern betont immer wieder, dass wir in kurzer Zeit sowieso alle nach Hause dürfen. Man kann uns nur nicht gleich laufen lassen, weil wir sonst wie eine Horde wilder Tiere losrennen und das Land verwüsten würden.

      Einmal bekommen wir eine auffallend gute Suppe. Die verdanken wir einem Pferd, das am Rand des Lagers umgefallen ist. So schnell haben die Posten gar nicht schauen können, da haben schon zehn bis fünfzehn Mann den Gaul ins Lager gezerrt, gehäutet und ausgenommen. Die Tschechen wollten uns das Frischfleisch nicht gönnen, aber die Russen haben dazwischengefunkt. Sie haben uns sogar noch weitere Pferde versprochen.

      Gleich neben dem Lager ist ein Sägewerk, in dem es jede Menge Bretter gibt. Ich weiß nicht warum, aber wir dürfen uns dort Bretter holen, damit wir Bunker bauen können. Immer einen für drei bis vier Mann. Wir sind in Hundertschaften eingeteilt worden, und jeder kommt dran. Ich stehe zusammen mit einem weiteren Kameraden, der sich zu uns gesellt hat, während Ludwig Erde aushebt. Wir laden uns so viele Bretter auf, wie wir nur tragen können.

      Es ist immer das Gleiche. Der Russe gibt mit vollen Händen, und der Tscheche flucht und würde uns am liebsten die Sachen an den Kopf werfen. Wenigstens sind wir jetzt im Trockenen und vor der Sonne geschützt.

      Seit einiger Zeit gehen Gerüchte um, dass wir in ein anderes Lager kommen, weil die Zahl der Kriegsgefangenen nun schon bald auf 30 000 Mann angestiegen ist. Eine Gruppe von dreißig Mann wird abgestellt, um den wichtigsten »Komfort« für ein Gefangenenlager aufzustellen: den Stacheldraht!

      Nach acht Tagen geht es los. Wir bauen unsere Bunkervillen ab, nehmen die Bretter auf den Rücken und werden dann in Hundertschaften und in Begleitung russischer Posten in das neue, fünf Kilometer weit entfernte Lager geführt. Es ist wieder eine große Wiese, mittendurch führt eine Straße in einen schönen Nadelwald. Die »Brettervillen« werden wieder aufgestellt, und der »alte Käse« geht wieder weiter. Warten, warten, warten, auf Suppe, auf Brot, auf irgendein Anzeichen im Gespräch mit den Russen auf eine baldige Heimkehr. Die meisten meiner Kameraden haben keine eigenen Vorräte mehr. Sie gehen den ganzen Tag von einem Bunker zum anderen, fragen nach irgendetwas oder schnorren Tabak, der mittlerweile auch zu Ende geht, denn Rauchzeug bekommen nur die Offiziere im Lager.

      So ist das. Zuerst haben die Russen gesagt: »Erschlagt eure Offiziere«, und nun werden sie in jeder Weise bevorzugt. Als ich einmal von einem Rundgang zurückkomme, ist mein Rucksack leer. Ich denke schon, der letzte Ranken Speck ist geklaut, als mir Ludwig erklärt, er könne mich nicht mehr mitfüttern, jeder sei sich selbst der Nächste und überhaupt sei das sein Speck, weil er ihn organisiert habe. Ich bin platt, erkläre ihm, dass ich auch geholfen habe und dass nur ich ihn geschleppt habe. Er sagt nur noch, mein Teil sei schon lange gefressen. So ist das also. Freunde in der Not sind wie Edelsteine: selten.

      Nun packt auch mich der Hunger so richtig. Wenn man sitzt und aufsteht, wird einem ganz schwindlig und man muss sich festhalten. Zu rauchen habe ich auch nichts mehr. Wir bekommen täglich siebzehn Gramm Zucker, den ich häufig in Tabak umtausche. Aber auf die Dauer geht das nicht. Ich muss mich also aufs Tauschen oder Vermitteln verlegen. Und so werden mit der Zeit ein Pullover, eine Drillichhose und einige Paar Socken verraucht.

      Ein Offizier sucht eine Butterdose und will zehn Zigaretten dafür geben. Ich höre mich um und mache tatsächlich eine ausfindig, die für drei Zigaretten zu haben ist. Wieder sieben Stück verdient. Damit komme ich leicht drei Tage aus. Die Zigaretten sind aber so stark, dass man bei jedem Zug glaubt, es wird einem ein Messer in die Lunge gestoßen. Nach zwei bis drei Zügen wird einem schwindlig und man muss sich setzen. Ein Mann allein soll sie gar nicht rauchen. Es sind ausgesprochene »Gruppenzigaretten« der Marke »Handgranate«. Anzünden und wegwerfen.

      Rauchen ist überhaupt ein Kapitel für sich. Ich sehe, wie ein Landser mit einem Posten verhandelt. Dieser will den Ehering des Soldaten. Der Soldat will Zigaretten. Der Russe bietet drei, der Landser will mehr, aber der Posten bleibt bei seinem Angebot. Nach langem hin und her wirft der Landser den Ehering für drei Zigaretten über den Zaun. Ich glaube, Frauen wären in dieser Hinsicht standhafter. Ein anderer verkauft für eine einzige Zigarette eine lederne Diplomatenaktentasche. Wieder einer reißt die dürren Birkenblätter ab, zerdrückt sie in der Hand und stopft sich dann damit die Pfeife. Es schmeckt nicht, aber es ist billig.

      Ich habe noch eine Schusterahle und eine große Rolle Zwirn. Damit fange ich an, Schuhe zu flicken. Sogar neue Sohlen werden von mir draufgemacht. Das Leder dafür müssen die Kunden selbst mitbringen. Meistens sind es Lederkoppel. Ich arbeite natürlich nicht umsonst. Die Bezahlung erfolgt in Form von Brot oder Tabak. Nun habe ich doch eine Genugtuung gegenüber Ludwig, dem inzwischen der Speck ausgegangen ist. Außerdem wollte Ludwig außer der Reihe entlassen werden, weil er früher einmal bei der SPD war, aber sein Kommandant hat ihm was gehustet.

      Seit einigen Tagen müssen wir arbeiten. Es wird für jede Hundertschaft eine Baracke gebaut. Dazu wird ein Gang einen Meter breit und eineinhalb Meter tief in die Erde gegraben. Links und rechts bleibt ein Raum von zwei Metern. Das ist die Schlaffläche. Das Dach geht von der Erde aus, sodass die ganze Baracke nur aus Dach besteht. Dazu werden dünne Stämme nebeneinander gelegt und die Fugen mit Lehm verschmiert. Ich habe selten erlebt, dass es durchgeregnet hat. Zweimal am Tage müssen wir in den Wald gehen und Stämme holen. Es ist nicht weit, aber trotzdem brauchen wir immer einen halben Tag dazu. Die neuesten Geschichten werden erzählt, es wird gehandelt und geschachert. Man legt sich irgendwo hin und fühlt sich wie ein freier Mensch.

      Die Posten sind ruhig, mit nur einer Ausnahme. Es ist an einem Morgen, an dem wir zur Arbeit gehen. Einer der Kameraden hat noch eine Uhr, und der Posten sieht das. Wie der Teufel geht er auf den Gefangenen los und will ihm die Uhr nehmen, aber der hat den Braten gerochen und verpasst ihm gleich einen Schlag, dass er sich wie vom D-Zug gestreift vorkommt.