Ein Entkommen war für ihn unmöglich. Er befand sich in einem mittelgroßen Raum, der wie ein echtes Gästezimmer eingerichtet war und wirklich nicht an eine Privatzelle erinnerte. Es gab hier eine komfortable Bettcouch, einen Kleiderschrank, zwei Sessel und einen Clubtisch. Auf dem Boden lag ein Teppich und selbst an den Wänden hingen reizvolle Fotos, die als Bilder dienten.
Er hätte sich als Gast fühlen können, wenn da nicht die verschlossene Tür und die Ziergitter vor dem Fenster gewesen wären. Der Gast des Hauses hatte längst herausgefunden, daß die Fensterscheibe aus dickem Panzerglas bestand. Zudem hätte er sich auch kaum mit etwaigen Nachbarn in Verbindung setzen können, denn das Fenster führte nur in einen schmalen Lichtschacht.
Der Mann mit der randlosen Brille hörte plötzlich Schritte vor der Tür, Stimmen, dann Geräusche, die an einen leichten Zweikampf erinnerten. Er lief also zur Tür und preßte sein linkes Ohr gegen das Türblatt. Er wollte herausfinden, was sich jetzt tat.
„Geben Sie den Weg frei, Mister Parker“, hörte er die Stimme der kriegerischen Dame, „sofort oder ich werde mich vergessen!“
„Mylady“, antwortete der Butler beschwörend. „Sie können doch nicht schon wieder das machen, was man reinen Tisch nennt.“
„Und warum nicht?“ Die Dame des Hauses machte einen sehr erregten Eindruck, ihre Stimme klang schrill.
„Ich weiß wirklich nicht mehr, wo ich die vielen Leichen hinschaffen soll“, war nun wieder die Stimme des Butlers zu hören, den der Mann natürlich schon gesehen hatte. „Mylady, eines Tages wird die Polizei stutzig werden.“
„Papperlapapp“, herrschte die Detektivin ihren Butler an. „Wenn dieser Flegel nicht endlich redet, geht auch seine Haut in Streifen. Ich will Blut sehen!“
„Bitte, Mylady, nicht schon wieder!“ beschwor der Butler seine Herrin eindringlich. „Ich halte das auf die Dauer nicht mehr aus.“
„Aus dem Weg, Lakai!“ Die Stimme der älteren Dame überschlug sich jetzt förmlich, die Klinke der Tür wurde heruntergeschmettert. Der Gast des Hauses wußte jetzt, daß er es mit einer blutrünstigen und wahrscheinlich auch irrsinnigen Frau zu tun hatte. Entsetzt wich er zurück, drückte sich in die Ecke neben dem Fenster und sah sich nach einer geeigneten Waffe um.
„Mylady!“ Der Butler schrie das Wort beschwörend und bittend zugleich.
„Sklavenseele!“ herrschte die erregte Dame ihren Butler an. Dann hörte der Gast des Hauses einen dumpfen Schlag, ein ersticktes Röcheln und einen harten Fall, der den Boden erzittern ließ.
Aus hervorquellenden Augen starrte der Mann auf die Tür, die sich langsam öffnete. Er hoffte inständig, daß es dem Butler gelungen war, die Verrückte niederzuschlagen.
Dann hielt er allerdings den Atem an, denn die resolute Dame kam herein. In ihrer Hand befand sich ein langer Dolch, dessen Spitze blutbefleckt war. In den Augen der Verrückten stand ein irres Leuchten.
„Jetzt will ich die Wahrheit hören“, sagte sie und leckte sich die Lippen. „Warum haben Sie mich entführt, mich, Lady Agatha Simpson?“
„Nein, nein“, bat der Gast des Hauses mit versagender Stimme. Er hatte ein auf dem Boden liegendes Beinpaar vor der Tür entdeckt. Die Verrückte mußte ihren eigenen Butler niedergestochen haben!
„Nein?“ fragte die erregte Frau gedehnt.
„Das heißt ja!“ korrigierte sich der Mann entsetzt, „ich heiße James Gatson und bin Privatdetektiv, Mylady, mein Ehrenwort! Sie können das nachprüfen. Ich bin Privatdetektiv, ich stehe auf Ihrer Seite. Tun Sie das Messer bitte weg! Ich werde Ihnen alles erzählen.“
„Sie wollen eine alte Frau belügen?“ Agatha Simpson kicherte animiert. „Dafür werde ich Sie bestrafen!“
„Mein Ehrenwort“, versicherte der verwirrte Mann noch mal und riß dann den Sessel als Schutz und Schild hoch. Er wollte seine Gegnerin überraschen und außer Gefecht setzen.
„Wir sollten tunlichst nicht übertreiben, Mister Gatson“, ließ sich in diesem Moment die Stimme des vermeintlich niedergestochenen Butlers von der Tür her vernehmen. „Stellen Sie den Sessel wieder zurück!“
„Darum möchte ich auch gebeten haben“, fuhr Lady Simpson ihren jetzt völlig verwirrten Gast an. „Benehmen Sie sich wie ein halbwegs zivilisierter Mensch, Mister Gatson!“
Agatha Simpson, eben noch an eine blutrünstige Irre erinnernd, gab sich ohne jeden Übergang wieder völlig normal. Ja, sie lächelte jetzt sogar, wenn auch ein wenig grimmig.
„Darf ich davon ausgehen, daß Sie Ihren wirklichen Namen genannt haben?“ erkundigte sich Parker.
„Was Sie hier mit mir getrieben haben, ist seelische Grausamkeit“, beschwerte sich der Mann jetzt.
„Und was Sie mit mir trieben, war eine kriminelle Entführung“, fuhr Lady Simpson ihn an. „Ich leide noch jetzt darunter.“
Nun, sehr leidend sah Agatha Simpson nicht aus. Sie baute sich vor James Gatson auf und stieß einen knurrenden Laut aus.
„Reden Sie endlich“, sagte sie dann, „ich werde leicht ungeduldig.“ Während sie noch redete, sah sie sehr betont auf den blutigen Dolch.
*
Nach der Dauerpanne mit der langbeinigen Rothaarigen und der Dusche vor Lady Simpsons Haus in Sepherd’s Market rief Melvin den tatsächlichen Chef an, der die Fäden in der Hand hielt. Melvin befand sich in der Wohnung der beiden Killer, die in Soho lag. Hier hatten Paul und Richie sich eingerichtet und fungierten nach außen hin als junge Unternehmer. Sie betrieben ein Inkasso-Büro und bezahlten sogar Steuern. In diesen Zeiten war es sehr wichtig, den Behörden gegenüber eine legale Tätigkeit nachweisen zu können.
Paul und Richie beschäftigten sich mit zahlungswilligen oder sogar faulen Kunden und kassierten bei diesen Leuten fällige Raten. Die bisherige Erfolgsquote der beiden Killer konnte sich durchaus sehen lassen. Übernahmen sie einen Fall, dann brachten es die beiden Männer fertig, die ausstehenden Gelder herbeizuschaffen. Ihre Methoden waren hart, wenngleich sie sich auch hüteten, brutal zu werden. Ärger mit der Polizei wollten sie nicht haben.
Von diesem Inkasso-Büro aus rief Melvin seinen Chef an. Er teilte dem Mann mit, was sich ereignet hatte, und ließ die fällige Kopfwäsche über sich ergehen. Nur Melvin allein kannte diesen Drahtzieher, Paul und Richie waren lediglich von ihm gemietete Killer, die ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen hatten.
Das Gespräch mit diesem Mann im Hintergrund war recht kurz. Melvin erhielt die Anweisung, Einzelheiten mündlich zu überbringen. Er wurde in einer halben Stunde am Picadilly Circus erwartet und sollte dann dort weitere Anordnungen entgegennehmen.
Als er zurück in den Wohnraum kam, der den beiden Inkasso-Männern als Büro diente, hatten Paul und Richie sich inzwischen umgezogen und sahen ihn erwartungsvoll an. Auch die beiden Killer machten einen wütend-zerknirschten Eindruck. Sie litten seelisch und hatten die Mißerfolge immer noch nicht verdaut.
„Ich verschwinde mal für ’ne knappe Stunde“, sagte Melvin und sah auf seine Armbanduhr. „Der Chef erwartet mich.“
„Uns“, korrigierte Paul, der schlanke Killer mit den grünlichen Augen wie selbstverständlich. Er und Richie hatten sich einen Plan einfallen lassen.
„Wir kommen natürlich mit“, bestätigte Richie, „ein Mann wie du, Melvin, braucht Schutz.“
„Ich gehe allein“, antwortete Melvin unsicher.
„Allein mit uns“, präzisierte Paul.
„Wir möchten den wirklichen Chef endlich mal kennenlernen“, sagte Richie.
„Ich hab’ direkt Sehnsucht nach ihm“, behauptete Paul.
„Auf Genies