Für Andreia
Ihr rosa Kleid verstört mich. Es hindert mich am Sterben.
Juan O’Gorman
In einem anderen Leben werde ich vielleicht verstehen,
in diesem fantasiere ich nur.
Daniel Sada
Und wenn die Hunde, die Ihr ihnen zu essen gabt, zu neuem
Leben erwachten und in ihren Mägen bellten!
Francisco de Quevedo
ÄSTHETISCHE THEORIE
Wenn ich damals am Morgen meine Wohnung verließ, die 3-C, stieß ich jedes Mal auf meine Nachbarin aus der 3-D, die steif und fest behauptete, ich würde einen Roman schreiben. Die Nachbarin hieß Francesca, aber man musste es Franscheska aussprechen, damit es ordinärer klang. Und ich schrieb keinen Roman, so weit kommt’s noch. Nachdem wir uns mit einem Stirnrunzeln gegrüßt hatten, warteten wir schweigend auf den Fahrstuhl, der das Gebäude in zwei Hälften teilte wie ein Reißverschluss eine Hose. Wegen solcher Vergleiche erzählte sie überall im Haus herum, ich würde mich an sie heranmachen. Und weil ich sie Francesca nannte, wie sie in Wahrheit gar nicht hieß. Es war nur der Name, den ich ihr in meinem angeblichen Roman gegeben hatte.
Manchmal dauerte es Stunden, bis der Aufzug kam, als wüsste er nicht ganz genau, dass im Haus nur alte Leute wohnten. Als hätten wir alle Zeit der Welt noch vor und nicht längst hinter uns. Aber vielleicht wusste er das auch und es interessierte ihn nur einfach nicht die Bohne. Als endlich die Türen aufgingen, stiegen wir ein und fuhren gemächlich nach unten. Das Gefährt bewegte sich in einem solchen Schneckentempo, dass es so schien, als würden die Hände eines Schlitzohrs den Reißverschluss besonders langsam öffnen, um die Erregung zu steigern und die Befriedigung hinauszuzögern. Die Kakerlaken nutzten die Gelegenheit und fuhren in aller Ruhe nach unten, um den Kollegen im Hausflur einen Besuch abzustatten. Ich wiederum nutzte die Zeit, um ein paar von ihnen plattzumachen. Im Fahrstuhl war die Jagd deutlich leichter als in der Wohnung, im Treppenhaus oder im Hausflur, allerdings auch viel riskanter. Man musste sie mit sicheren Tritten ins Jenseits befördern, durfte es aber auch nicht übertreiben, nicht, dass der Fahrstuhl dabei noch in die Tiefe stürzte. Ich warnte Francesca, sich ja nicht zu rühren. Einmal war ich ihr aus Versehen auf den Fuß getreten, und sie hatte mich gezwungen, ihr das Taxi zum Podologen zu bezahlen.
Im Hausflur warteten schon die Speichellecker vom Literaturzirkel auf sie. Die Armen, Francesca zwang sie, einen Roman nach dem anderen durchzuackern. Stundenlang saßen sie im Hausflur, montags bis sonntags. Auf dem Markt hatten sie sich batteriebetriebene Lämpchen besorgt, die man sich mit einer Lupe zum Lesen an die Stirn klemmte. Made in China. Sie hüteten sie wie ihre Augäpfel, als wären sie die größte Erfindung seit dem Schießpulver oder dem Maoismus. Ich schlich mich an den Stühlen vorbei, die wie bei einer Selbsthilfegruppe oder satanischen Sekte im Kreis angeordnet waren, und als ich endlich an der Haustür war und schon die Nähe der Straße mit ihren Schlaglöchern und ihrem Gestank nach Frittiertem spürte, rief ich ihnen zum Abschied zu:
»Wenn ihr mit den Büchern durch seid, könnt ihr sie mir gerne geben! Mein Wohnzimmertisch wackelt!«
Und Francesca antwortete:
»Franscheska heißen nur italienische Nutten, Sie alter Lustgreis!«
Der Literaturzirkel bestand aus zehn Leuten, plus der Chefin. Ab und zu verstarb einer oder konnte nicht länger alleine wohnen und landete im Heim, doch Francesca schaffte es immer wieder, den neuen Mieter zu umgarnen. Das Haus hatte zwölf Wohnungen, verteilt auf drei Stockwerke, vier pro Etage, und die Bewohner waren ausnahmslos Witwer und alte Junggesellen, oder besser gesagt Witwen und alte Jungfern, denn das weibliche Geschlecht war eindeutig in der Überzahl. Das Haus mit der Nr. 78 stand in der Calle Basilia Franco, einer Straße wie jede andere in Mexiko-Stadt, was so viel heißt wie: genauso dreckig und heruntergekommen wie jede andere. Das einzig Besondere war unser kleines Rentnerghetto, so alt und hinfällig wie seine Bewohner, die Greisenburg, wie die Leute in der Straße das Gebäude nannten. Die Hausnummer entsprach übrigens meinem Alter, nur dass sie nicht mit jedem Jahr zunahm.
Dass der Literaturzirkel in Wahrheit eine Sekte war, zeigte sich schon daran, dass sie es derart lange auf diesen unbequemen Stühlen aushielten, Aluminiumklappstühlen von Modelo Bier. Ich spreche hier von literarischen Fundamentalisten, Leuten, die skrupellos genug waren, so lange auf den Marketingchef einer Brauerei einzureden, bis der die Stühle herausrückte, was sich dann Kultursponsoring nannte. Aber so lächerlich es klingt, die Schleichwerbung wirkte – ich ging schnurstracks zur nächsten Kneipe und gönnte mir das erste Bier des Tages.
Der Literaturzirkel war jedoch nicht das einzige Übel im Haus. Hipólita aus der 2-C veranstaltete jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag einen Salzteigmodellierkurs. Montags und freitags kam ein Trainer, um mit den Alten im Epikur-Park Aerobic zu machen, einem unkrautüberwucherten Grünstreifen, wo man mehr Kohlenmonoxid und Schwefeloxid als Sauerstoff einatmete. Francesca, die früher Lehrerin gewesen war, gab privaten Englischunterricht. Außerdem gab es Yoga-, Computer- und Makrameekurse. Alles selbst organisiert von den Hausbewohnern, für die Ruhestand nur ein anderes Wort für Vorschulunterricht zu sein schien. Das alles und den erbärmlichen Zustand des Gebäudes musste man ertragen, aber dafür waren die Mieten seit Urzeiten nicht erhöht worden.
Und dann waren da noch die Ausflüge zu allen möglichen Museen und historischen Sehenswürdigkeiten. Jedes Mal, wenn jemand einen Zettel mit der Ankündigung eines Museumsbesuchs in den Hausflur hängte, fragte ich:
»Weiß einer, was das Bier in diesem Schuppen kostet?«
Die Frage war nicht ganz abwegig, schließlich hatte ich in einem Museumscafé einmal glatte fünfzig Pesos für ein Bier hinlegen müssen. Eine komplette Monatsrente! So einen Luxus konnte ich mir nicht leisten, ich musste mit meinen Ersparnissen haushalten, und bei meinem Rhythmus dürften diese Ersparnisse meinen Berechnungen nach etwa acht Jahre reichen, Zeit genug für den Sensenmann, mir bis dahin Guten Tag zu sagen. Mit »meinem Rhythmus« meine ich das, was die Leute immer so elegant genügsames Leben nennen, obwohl ich es eher mieses Leben nennen würde. Um mein Budget nicht zu überziehen, musste ich sogar die täglichen Gläser Bier zählen! Und genau das tat ich, akribisch, das Problem war nur, dass ich bis zum Abend alles wieder vergessen hatte. Das mit den acht Jahren konnte also genauso gut falsch sein, vielleicht waren es eher sieben oder sechs. Oder fünf. Der Gedanke, dass sich die Summe der täglichen Biere eines Tages umkehren und sich das Ganze in eine Art Countdown verwandeln könnte, machte mich ziemlich nervös. Und je nervöser ich wurde, desto schwerer fiel mir das Zählen.
Manchmal erteilte Francesca mir im Fahrstuhl kluge Ratschläge, wie man einen Roman schreibt, was ich, wie gesagt, überhaupt nicht tat. Beim Tempo des Aufzugs reichten ihr drei Stockwerke für zwei Jahrhunderte Literaturtheorie. Meinen Figuren fehle es an Tiefe, sagte sie, als spreche sie von Löchern. Und mein Stil brauche mehr Struktur, als würde sie Gardinenstoff kaufen. Ihre Aussprache war erstaunlich klar, und sie betonte jede Silbe derart deutlich, dass ihre Gedanken, so abstrus sie auch waren, völlig logisch klangen. Als wäre gute Aussprache ein Garant für Wahrheit. Oder eine Hypnosetechnik. Und es funktionierte! Auf die gleiche Weise war sie Diktatorin des Literaturzirkels, Sprecherin der Hausversammlung und oberste Autorität in Sachen Tratsch und boshafter Verleumdung geworden. Ich hörte nicht länger zu, schloss die Augen und konzentrierte mich auf das langsame Öffnen des Reißverschlusses. Dann gab es einen Ruck, wir waren angekommen, und Francesca spulte einen letzten Satz ab, den ich, da ich längst den Faden ihrer Predigt verloren hatte, nur mit einem Ohr aufschnappte:
»Ihnen wird es gehen wie den Yukateken, die suchen und suchen und nicht suchen.«
Und ich erwiderte:
»Wer nicht sucht, der findet nicht.«
Der Satz war von Schönberg und erinnerte mich an meine Mutter