Im ersten Absatz der Geschichte erfahren wir zwei Dinge über diesen Maler. Erstens: Sein Name ist Niggle. Das Oxford English Dictionary, an dem Tolkien mitarbeitete, gibt folgende Definition des englischen Verbs to niggle: „planlos oder unzweckmäßig arbeiten, Zeit auf belanglose Details verschwenden, es in Kleinigkeiten übergenau nehmen“12. In der deutschen Übersetzung heißt Niggle denn auch „Tüftler“. Niggle alias Tüftler war natürlich Tolkien selber, der sehr gut wusste, dass dies eine seiner eigenen Schwächen war. Er war ein Perfektionist, der mit seinen Werken nie zufrieden war, sich leicht durch unwichtige Details von wichtigeren Dingen ablenken ließ und zum Zögern und Sich-Zersorgen neigte, eben wie Niggle auch.
Wir erfahren über Niggle weiter: „Er sollte eine lange Reise machen. Er wollte gar nicht fahren; die Sache war ihm ausgesprochen zuwider, aber er konnte sich ihr nicht entziehen.“ Er schiebt die Reise ständig auf, aber weiß, dass er sie irgendwann wird antreten müssen. Tom Shippey, der wie Tolkien in Oxford altenglische Literatur lehrte, erklärt, dass in der altenglischen Literatur diese notwendige lange Reise der Tod war.13
Niggle liegt vor allem ein Bild am Herzen. Es hat mit einem Blatt begonnen, das ihm durch den Kopf ging. Aus dem Blatt wird ein Baum, und dann „begann überall um den Baum herum und hinter ihm … eine Landschaft sich auszubreiten; undeutlich sah man einen Wald, der sich über das Land hinzog, und Berge mit schneebedeckten Gipfeln.“ Niggle verliert das Interesse an seinen anderen Bildern, und um seine Vision zu verwirklichen, macht er sich eine Leinwand, die so groß ist, dass er zum Malen auf eine Leiter steigen muss. Er weiß, dass er sterben muss, aber er sagt sich: „Jedenfalls werde ich dieses eine Bild noch fertigbekommen, mein ureigenes Bild, ehe ich auf diese abscheuliche Reise gehen muss.“
Und er malt und malt, „tupfte hier einen Pinselstrich hin und rieb dort ein Fleckchen wieder weg.“ Aber viel bringt er nicht zuwege, und das hat zwei Gründe: Erstens ist er einer jener Maler, „die Blätter besser malen als Bäume. Er pflegte viel Zeit auf ein einziges Blatt zu verwenden und zu versuchen, seine Form, seinen Glanz und das Glitzern der Tautropfen an seinen Rändern einzufangen“, mit dem Ergebnis, dass er trotz all seiner Arbeit nur wenig auf die Leinwand bringt. Der zweite Grund ist seine „Gutherzigkeit“, die ihn seine Arbeit immer wieder unterbrechen lässt, weil ein Nachbar ihn um eine Gefälligkeit bittet, vor allem ein gewisser Herr Paris, der keinen Sinn für seine Malkünste hat.
Eines Abends, als Niggle spürt, dass seine Zeit fast abgelaufen ist, bittet Herr Paris (der ein lahmes Bein hat) ihn, hinaus in die Kälte zu gehen und einen Arzt für seine kranke Frau zu holen. Niggle tut dies – und wird selber krank. Kaum genesen, versucht er verzweifelt, sein Bild fertigzubekommen. Doch da kommt sein Fahrer: Die Zeit für die Reise ist gekommen. „Ach du lieber Himmel!“, sagt Niggle und beginnt zu weinen. „Und das Bild ist noch nicht einmal fertig!“
Einige Zeit nach seinem Tod bemerken die Leute, die jetzt in seinem Haus wohnen, auf einem Fetzen von der ehemaligen großen Leinwand „ein schönes Blatt“, das intakt geblieben ist. Es landet schließlich im Stadtmuseum, „und lange Zeit hing dort ‚Blatt, von Tüftler‘ in einem stillen Winkel, und ein paar Besucher bemerkten es.“
Aber zurück zu Niggle selber; seine Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sein Fahrer setzt ihn in einen Zug, der ihn ins Jenseits bringt. Dort erlebt er eine Szene, wo er zwei Stimmen hört. Die eine, strenge, scheint die der Gerechtigkeit zu sein; sie stellt fest, wie viel Zeit er in seinem Leben vergeudet und wie wenig er zustande gebracht hat. Die andere Stimme, die sanft, aber nicht weich ist und die der Gnade zu sein scheint, hält dagegen, dass Niggle doch so viel für andere getan hat, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Niggle darf mit einem zweiten Zug aufs Land fahren. Als er dort ankommt, sieht er etwas Wunderbares: „Vor ihm stand der Baum, sein BAUM, fertig. Wenn man das von einem lebenden Baum sagen kann, dessen Blätter sich entrollen, dessen Äste wachsen und sich im Wind biegen, was Niggle so oft gespürt oder geahnt und so oft nicht hatte einfangen können. Er starrte auf den BAUM, hob langsam die Arme und breitete sie weit aus. ‚Es ist eine Gabe!‘, sagte er.“14
Die Welt vor dem Tod – seine alte Heimat – hat Niggle fast völlig vergessen; dort ist sein Werk unvollendet geblieben, und von den paar Bruchstücken haben nur sehr wenige Menschen etwas. Doch in seinem neuen Land, der ewig wirklichen Welt, entdeckt er, dass sein Baum mitnichten ein Wunschtraum von ihm war, der mit ihm gestorben ist, sondern dass er fertig und vollendet dasteht, als Teil der wahren Realität, die für immer bestehen und Menschen Freude bringen wird.15
Ich habe diese Geschichte oft vor Menschen aus verschiedenen (vor allem jedoch künstlerischen) Berufen erzählt, und egal, was sie über Gott und das Leben nach dem Tod glauben, viele von ihnen berührt sie tief. Tolkien hatte ein tief christliches Verständnis der Kunst, ja der Arbeit überhaupt.16 Er glaubte, dass Gott uns Talente und Gaben gibt, damit wir füreinander das tun können, was er für uns und durch uns tun will. Als Schriftsteller z. B. konnte er durch das Erzählen von Geschichten, die das Wesen der Realität darstellen, das Leben der Menschen mit Sinn füllen.17 Niggle durfte erfahren, dass der Baum, den er nur geahnt hatte, „ein echter Teil der Schöpfung“ war18 und dass selbst das bisschen davon, das er den Menschen auf Erden enthüllt hatte, eine Vision des Wahren war. Tolkiens Geschichte war ihm selber ein großer Trost. Sie „half Tolkiens Angst ein wenig zu lindern und ihn wieder an den Herrn der Ringe zu bringen“, auch wenn es vor allem das freundliche Drängen von C. S. Lewis war, das ihn weiterschreiben ließ.19
Künstler, aber auch Unternehmer werden sich leicht mit Niggle identifizieren können. Sie gehen in ihrer Arbeit von oft sehr großen Visionen aus – Visionen einer Welt, die nur sie sich richtig vorstellen können. Nur wenigen von ihnen gelingt es, auch nur einen nennenswerten Teil ihrer Vision umzusetzen, und kaum einer erreicht das Ziel ganz. Und auch all die unter uns, die, wie Tolkien, zu Perfektionismus und Pedanterie neigen, können sich gut mit Niggle identifizieren.
Aber eigentlich ist jeder Niggle. Wir alle möchten so gerne etwas Großes schaffen – und bringen es nicht fertig. Jeder möchte lieber erfolgreich als vergessen sein, jeder möchte die Welt verändern. Aber das haben wir nicht in der Hand, und wenn dieses irdische Leben alles ist, dann wird irgendwann alles zusammen mit der sterbenden Sonne verbrennen und es wird niemanden mehr geben, der sich noch an irgendetwas erinnern kann. Alles wird vergessen sein, und all unser Tun, selbst das beste und edelste, wird umsonst gewesen sein.
Außer es gibt Gott. Wenn der Gott der Bibel existiert und es somit unter und hinter dieser Realität eine echte, ewige Realität gibt und dieses Leben nicht das Einzige ist, dann kann jede Arbeit, selbst die einfachste, die wir als von Gott Berufene tun, die Welt für immer verändern. Das ist ja die Verheißung des christlichen Glaubens: „Nichts ist vergeblich, was ihr für ihn [den Herrn] tut“, schreibt Paulus in 1. Korinther 15,58. Er spricht hier von der Arbeit in der Gemeinde, aber Tolkiens Geschichte zeigt uns, dass dieser Satz letztlich für jede Arbeit gültig ist. Der Christ Tolkien hatte sich darauf eingestellt, jemand zu sein, der in den Augen dieser Welt wenig geleistet hatte. (Ironischerweise schuf er dann ein geniales literarisches Werk, das zu einem der größten Bestseller aller Zeiten wurde.)
Wie ist das mit Ihnen? Nehmen wir an, Sie studieren als junger Mensch Stadtplanung. Warum? Sie mögen große Städte, und Sie haben eine Vision, wie eine „richtige“ Stadt auszusehen hat. Doch Sie werden enttäuscht werden, denn wahrscheinlich werden Sie in Ihrem ganzen Leben nicht mehr als ein „Blatt“ oder allenfalls einen „Zweig“ schaffen. Aber es gibt wirklich ein Neues Jerusalem, eine himmlische Stadt, die einst wie eine geschmückte Braut auf die Erde herabkommen wird (Offenbarung 21–22).
Oder Sie sind Jurist geworden – weil Sie eine Vision von einer Gesellschaft haben, in der Gerechtigkeit, Fairness und Friede herrschen. In zehn Jahren werden Sie ihre Illusionen über Bord geworfen haben, weil Sie sich so sehr für wirklich wichtige Dinge einsetzen möchten, aber das allermeiste von dem, was