Eine davon ist die Sicht der Arbeit als notwendiges Übel. In diesem Denken ist die einzige „gute“ Arbeit die, die uns so viel Geld einbringt, dass wir unsere Familien ernähren und Putzfrauen und andere bezahlen können, damit sie uns die niederen Tätigkeiten abnehmen. Und zweitens glauben wir, dass Tätigkeiten, die „einfach“ sind oder nicht viel Geld einbringen, an unserer Würde kratzen. Eine Folge dieser Einstellung ist, dass viele Menschen Berufe ergreifen, für die sie überhaupt nicht geeignet sind, die aber ein höheres Gehalt oder mehr Prestige versprechen. Die westlichen Gesellschaften sind zunehmend gespalten in die Klassen der Gebildeten, der Kopfarbeiter, und den weniger lukrativen Dienstleistungssektor, und die meisten von uns akzeptieren und pflegen die mit diesen Kategorien zusammenhängenden Werturteile. Eine andere Folge ist, dass viele Menschen lieber arbeitslos sind, als dass sie Arbeiten „unter ihrem Niveau“ verrichten – und die meisten körperlichen Arbeiten und Dienstleistungstätigkeiten fallen in diese Kategorie. Viele Menschen, die es in die gebildeten Klassen geschafft haben, sehen sehr verächtlich auf die Hausmeister, Reinigungskräfte, Köche, Gärtner und andere „Dienstleistende“ herab.
Arbeit als Zeichen der Würde des Menschen
Die Bibel sieht diese Dinge völlig anders. Alle Arbeit, ob mit den Händen oder dem Kopf, ist Zeichen unserer Würde als Menschen – weil sie das Bild Gottes, des Schöpfers, in uns spiegelt. Derek Kidner weist auf ein tiefgründiges Detail bei der Erschaffung der Tiere und des Menschen in 1. Mose 1 hin: Allein der Mensch bekommt eine Aufgabe, „ein Amt (1,26b; 28b; 2,19; vgl. Psalm 8,5-9; Jakobus 3,7) …“44 Mit anderen Worten: Während die Pflanzen und Tiere lediglich reichlich da sein und sich vermehren sollen, bekommen die Menschen ausdrücklich eine Arbeit. Sie sollen sich die Erde „untertan machen“ bzw. über sie herrschen.
Gott gibt uns einen konkreten Arbeitsauftrag, weil er uns nach seinem Bild erschaffen hat. Was bedeutet das? „Die Herrscher des Alten Vorderen Orients stellten an Orten, wo sie Autorität ausübten oder beanspruchten, Bilder und Statuen von sich selber auf. Diese Bilder waren Stellvertreter des Herrschers selber, Symbole seiner Gegenwart und Autorität …“45 Die enge Verbindung von 1. Mose 1,26 mit dem Mandat der „Herrschaft“ zeigt, dass dieses Herrschen ein zentraler Aspekt unserer Gottesebenbildlichkeit ist. Als Ebenbilder Gottes sollen wir Gott selber hier in dieser Welt vertreten, indem wir als seine Statthalter den Rest der Schöpfung gleichsam verwalten. Wir führen dabei Gottes Schöpfungshandeln weiter – wir ordnen das Chaos, schaffen mit den Materialien der physischen und menschlichen Natur kreativ eine Kultur und sorgen für alles, was Gott geschaffen hat. Dies ist ein zentraler Teil unserer Bestimmung.
Während die alten griechischen Philosophen gewöhnliche Arbeit (vor allem die körperliche) als etwas sahen, was den Menschen auf die Ebene des Tieres drückte, sieht die Bibel alle Arbeit als etwas, was den Menschen vom Tier unterscheidet und ihn erhebt und ihm Würde gibt. Der Alttestamentler Victor Hamilton weist darauf hin, dass in Israels Nachbarkulturen wie Ägypten und Mesopotamien der König oder andere Adlige manchmal „Bild Gottes“ genannt wurden, aber dass dieser exklusive Titel „nicht dem Kanalgräber oder dem Maurer, der die Zikkurat baute, galt … [Doch Genesis 1 verwendet] eine königliche Titulierung für den ‚Menschen‘ ganz allgemein. In Gottes Augen ist jeder Mensch königlich. Die Bibel demokratisiert die royalistischen und exklusiven Vorstellungen der Nachbarnationen Israels.“46
Arbeit hat Würde, weil sie etwas ist, was Gott tut – und wir an Gottes statt, als seine Stellvertreter. Und nicht nur die Arbeit an sich hat Würde, sondern alle Arten von Arbeit haben Würde. Gott selber arbeitet in 1. Mose 1–2 „mit den Händen“, als er uns aus dem Staub der Erde erschafft, in einen physischen Leib Geist einbläst und einen Garten anlegt (1. Mose 2,7-8). Wir können uns heute kaum noch vorstellen, wie revolutionär diese Vorstellung in der Geschichte des menschlichen Denkens war. Der Pastor und Autor Phillip Jensen drückt es so aus: „Wenn Gott in die Welt käme, wie würde er aussehen? Für die alten Griechen vielleicht wie ein König und Philosoph. Die alten Römer hätten vielleicht einfach einen gerechten und edlen Staatsmann erwartet. Aber wie kommt der Gott der Hebräer in die Welt? Als Zimmermann.“47
Das heutige Wirtschaftsleben und die Wissensgesellschaft fördern die Stigmatisierung von Arbeiten wie etwa in Landwirtschaft oder der Kinderbetreuung – lauter „Jobs“, die als „unqualifiziert“ gelten und daher schlecht bezahlt werden. Doch im Schöpfungsbericht sehen wir Gott als Gärtner und im Neuen Testament als Zimmermann. Keine Tätigkeit ist ein zu kleines Gefäß für die ungeheure Würde, die Gott der Arbeit gibt. Das Schneiden einer Hecke ist nicht weniger Gottes Arbeit als die Formulierung theologischer Lehrsätze. Denken wir nur an die angeblich so „einfache“ Arbeit des Hausputzes. Wenn wir sie nicht machen bzw. nicht jemanden dafür einstellen, können uns irgendwann die Bakterien und Viren, die sich in unserem Haus ausbreiten, krank machen. Gott hat die physische Welt erschaffen, damit wir sie durch unsere menschliche Arbeit auf tausend Weisen kultivieren, entwickeln und pflegen, und hier ist selbst die einfachste Tätigkeit wichtig, denn ohne sie ist menschliches Leben nicht möglich.
Mike, ein Freund von Katherine, ist einer von fünfzehn Pförtnern in einer großen Wohnanlage in Manhattan. In „seinem“ Haus wohnen an die hundert Parteien. Mike ist jetzt Anfang 60 und war als junger Mann von Kroatien in die USA ausgewandert. Er hatte viele Berufe, von der Gastronomiebranche bis zu handwerklichen Tätigkeiten. Er ist jetzt seit zwanzig Jahren Pförtner in diesem Haus und sieht seine Arbeit definitiv nicht nur als „Job“. Die Hausbewohner sind ihm wichtig, und er hilft ihnen gerne, ihre Autos zu beladen, Parkplätze zu finden und Gäste willkommen zu heißen. Er ist es, der dafür sorgt, dass der Eingangsbereich stets sauber und einladend ist.
Wenn man ihn fragt, warum er alles liegen und stehen lässt, um einem aus seinem Wochenende zurückgekehrten Bewohner beim Entladen des Autos zu helfen, antwortet er: „Das ist mein Job“, oder: „Die brauchten halt Hilfe.“ Warum kennt er die Namen sämtlicher Kinder? „Weil die hier wohnen.“ Und auf die Frage, warum er sich ständig solche Mühe gibt, erwiderte er: „Ich weiß nicht … ich schätze mal, ich brauch’ das, um morgens in den Spiegel gucken zu können. Ich könnte nicht leben, wenn ich nicht jeden Tag versuchen würde, mein Bestes zu geben.“ Mike tut seine Arbeit offenbar aus Dankbarkeit für seinen Arbeitsplatz und für sein Leben. Er ist froh, in Amerika sein zu dürfen.
Die meisten der Menschen, für die Mike arbeitet, sind Akademiker oder Geschäftsleute, die wahrscheinlich froh sind, dass sie kein Pförtner sind. Manche empfänden es wahrscheinlich als Demütigung, wenn sie seine Arbeit tun müssten. Mikes Einstellung zeigt, dass er um die Würde seiner Arbeit weiß, und damit macht er sie zu etwas, das gut und wertvoll ist.
Vom Wert der physischen Welt
Alle Arbeit hat Würde, weil sie ein Spiegel unserer Gottesebenbildlichkeit ist – aber auch, weil die physische Schöpfung, für die wir sorgen sollen, gut ist. Die Griechen sahen den Tod als Freund, weil er uns aus dem Gefängnis des Leibes befreite. Die Bibel sieht den Tod nicht als Freund, sondern als Feind (1. Korinther 15,26), weil die Welt, die Gott erschaffen hat, herrlich und gut ist (1. Mose 1,31) und in Ewigkeit existieren wird (Offenbarung 22,1-5). Die biblische Schöpfungslehre steht voll in Einklang mit der Lehre von der Menschwerdung Gottes in Jesus und der Auferstehung (bei der Gott nicht nur die Seele, sondern auch den Leib erlöst!). Der christliche Glaube ist zutiefst „pro-leiblich“. Für den Christen ist selbst die Zukunft, die Gott uns verheißt, eine leibliche Zukunft. Für manche Weltanschauungen ist der Geist grundsätzlich realer und wahrer als der Körper, andere betrachten umgekehrt das Geistliche als Illusion und das Physische als die einzige Wirklichkeit. Keine dieser Auffassungen findet sich in der Bibel.
Christen wissen darum, dass die Welt gut ist. Sie ist nicht lediglich die vorübergehende Bühne für unsere individuellen Erlösungsgeschichten,