Er hatte Sophies Blutgruppe für den Fall wissen müssen, dass es nach dem Unfall noch zu Komplikationen gekommen wäre und seine Patientin eine Blutspende gebraucht hätte. Darüber hinaus hatte er ihren Hämoglobinwert getestet, die Anzahl der roten Blutkörperchen in ihrem Blut. Ein zu niedriger Wert war neben der bläulichen Färbung der Schleimhäute ein untrüglicher Hinweis auf innere Blutungen, von denen er nicht ausgegangen war. Aber er hatte ganz sichergehen wollen. Da sich dieser Wert als völlig normal herausgestellt hatte, war seine Diagnose aufgrund der Schleimhautuntersuchung richtig gewesen.
Aber dieser normale Hämoglobinwert passte nicht zu ihrer Krankheit, bei der die roten Blutkörperchen stets reduziert und die weißen erhöht waren. Diesbezüglich gab es keinerlei Ausnahmen oder Absonderlichkeiten.
»Danke, Gertrud«, sagte er, als seine Sprechstundenhilfe ihm die Unterlagen auf den Schreibtisch legte.
Nachdem sie sein Sprechzimmer verlassen hatte, stürzte er sich sofort auf die Ergebnisse, die nun schriftlich vor ihm lagen.
Er nickte zufrieden.
Er hatte sich nicht getäuscht. Sein Erinnerungsvermögen funktionierte noch prächtig, bescheinigte er sich stolz.
Blutgruppe AB, normaler Hämoglobinwert.
Hier stimmte etwas nicht. Es gab nur zwei Möglichkeiten:
Entweder hatte Gertrud bei der Auswertung gestern einen Fehler gemacht, oder der Fehler musste anderswo gemacht worden sein.
Er öffnete die Schreibtischschublade und holte den Befund des Karlsruher Labors heraus. Bevor er jedoch dazu kam, diesen nochmals zu lesen, meldete sich Schwester Gertrud über die Sprechanlage.
»Herr Doktor, der Sohn vom alten Schäuble hat gerade voller Panik angerufen. Sein Vater hat wieder eine starke Unterzuckerung.«
»Ich fahre sofort zu ihm«, erwiderte Matthias und stand auf.
*
Der Hausbesuch auf dem Schäuble-Hof hatte länger gedauert, als es nötig gewesen wäre. Nachdem der Landarzt seinen Patienten stabilisiert hatte, war er auf dessen Wunsch noch eine Weile geblieben. Der Bauer, ein Mann über achtzig, seit Jahrzehnten bei ihm in Behandlung, war aufgeblüht in seiner Gegenwart, hatte von der Vergangenheit erzählt, von seinen Enkeln und für einige Zeit seine Krankheit, sein Alter und sein inhaltsloses Leben vergessen. Matthias hatte sogar zum Abschied noch ein kleines Obstwässerle trinken müssen. »Für mich, ich darf ja nicht mehr«, hatte der alte Mann ihn gebeten. Danach fuhr er mit zufriedenem Gefühl im Herzen in seine Praxis, um nach Sophie zu sehen.
Thomas und seine Patientin saßen auf dem kleinen Balkon. Hand in Hand. Die beiden machten einen so verliebten Eindruck, als wäre an diesem warmen Nachmittag ihre Welt in bester Ordnung.
Ja, der Mensch braucht solch sonnige Momente, um wieder Kraft zu tanken, dachte Matthias mit wissendem Lächeln, als er die Praxis verließ.
Sein Hochgefühl sollte jedoch schnell dem schlechten Gewissen weichen, als er im Flur des Schwarzwaldhauses seiner Frau in die Augen sah.
»Lump und ich warten schon so lange auf dich«, sagte Ulrike nicht wirklich verärgert, aber mit deutlicher Kritik. »Du hast das Essen ausfallen lassen, und bei dem schönen Wetter wollten wir doch auch noch …«
Matthias gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich weiß, wir wollten eine lange Wanderung machen. Die habe ich auch nicht vergessen.« Zärtlich küsste er sie auf die Nasenspitze und flüsterte in verheißungsvollem Ton: »Aber ist es nicht viel romantischer, am Spätnachmittag zu gehen? Dann können wir beim Büchsenlicht das Wild beobachten, ganz eng nebeneinander auf dem Hochstand.«
Seine Worte entlockten Ulrike ein herzliches Lachen, das den langen Flur erfüllte. Spielerisch schlug sie nach ihm.
»Du alter Schlawiner. Ich kenne dich. Du hast dich mal wieder um Körper und Seele deiner Patienten gekümmert. Und was ist mit mir?«
»Jetzt bist du dran«, erwiderte er frohgelaunt. »Zieh deine Jagdkleidung an. Gleich geht’s auf Pirsch.«
*
Wenige Minuten später stiegen die beiden in den Wagen. Ihnen voran hechtete Lump in den Kofferraum. Der deutsche Drahthaar sprang vor Begeisterung über den Ausflug auf der Ladefläche des Kombis herum, als würde er auf einem Trampolin hopsen. Erst der scharfe Befehl seines Herrchens, sich abzulegen, ließ ihn zur Ruhe kommen.
»Schön ist’s«, sagte Ulrike voller Inbrunst, als sie die Serpentinen zu den Schwarzwaldhöhen hinauffuhren. Sie drückte die Hand ihres Mannes, der diese zärtliche Geste erwiderte.
Matthias stellte das Auto am Waldrand ab, dort, wo die Grenze seines Jagdreviers verlief. Das Gewehr hatte er zu Hause gelassen. Er wollte nichts schießen. Ulrike mochte das nicht. Sie beobachtete lieber das Wild beim Äsen.
Er nahm Lump an die lange Laufleine, und los ging’s.
Wie immer schwiegen sie zuerst eine Weile, atmeten die reine Luft ein, ließen ihren Gedanken freien Lauf. Um sie herum zirpten die Grillen, und oben in den Wipfeln der Fichten begleitete sie eine rote Eichkatze mit funkelnden kleinen Äuglein, die Ausschau nach einer Handvoll Nüssen hielten, welche Ulrike dem Tierchen dann auch gern auf den Weg streute. Nach einer Weile brach Matthias das Schweigen.
»Ich habe mir heute Mittag noch einmal den Hämoglobintest von Sophie Wittmer angesehen. Sein Ergebnis steht in völligem Gegensatz zu der Diagnose ihres Arztes in Karlsruhe.«
Seine Frau blieb stehen, sah ihn überrascht an.
Er erzählte ihr von dem Gespräch, das er mit seiner Patientin geführt hatte.
»Vielleicht hat der junge Mann sich geirrt«, meinte Ulrike schließlich. »Wir wissen doch, wie die Mediziner heute sind. Nach ihrer Assistenzarztzeit bauen sie sich große Praxen mit den modernsten Geräten, sind dadurch auf so viele Patienten angewiesen und verlieren schließlich die Übersicht, weil sie auch zu wenig Erfahrung haben, einen so großen Apparat zu lenken.«
»Na ja, es gibt auch noch vernünftige junge Kollegen«, schwächte Matthias ihren harten Einwand ab.
»Schwester Gertrud hat mir auch davon erzählt. Als es so aussah, dass du die Praxis für immer schließen würdest und sie sich anderswo beworben hat, war das genau ihr Eindruck. Große Praxen, Ärztegemeinschaften, wo der Patient eine Kundennummer bekommt. Wo findet man denn heute noch so einen Arzt wie dich? Einen, der sich für den Menschen interessiert, der auch mal ein Obstwässerle trinkt, wenn sein Patient es nicht mehr darf?«, fügte sie mit harmlosem Blick hinzu.
Matthias musste lachen.
Sie hatte es also doch gerochen.
»Du kommst vom Thema ab. Was willst du mir mit deinem Exkurs über die jungen Ärzte sagen?«
»Ganz einfach, dass sie sich irren können. Was nicht heißt, dass du dich nicht auch irren kannst. Aber die Wahrscheinlichkeit ist in so einer riesigen Praxis viel größer. Vielleicht hat man Sophies Laborergebnis mit dem eines anderen Patienten verwechselt.«
Matthias blieb stehen.
Er spürte plötzlich eine Nervosität in sich, die ihm fremd war. Diesen Gedanken hatte er auch schon gehabt, als er auf dem Weg zum Schäuble-Hof gewesen war. Trotzdem …
»In meiner ganzen Laufbahn habe ich so etwas noch nicht erlebt oder gehört«, widersprach er seiner Frau.
»Du musst mehr Zeitung lesen«, lautete ihr trockener Kommentar. »Womöglich ist die Verwechslung im Labor passiert. Jemand hat versehentlich in Hektik die Blutröhrchen vertauscht. Oder die Sprechstundenhilfe in der Karlsruher Praxis hatte zu viel Stress, war in Gedanken, litt unter Liebeskummer. Es gibt viele Erklärungen.« Ulrike hatte sich in Rage geredet. »Feststeht – und das weiß ich noch als einfache Krankenschwester aus meiner Zeit in der Klinik –, kein Krebspatient hat einen normalen Hämoglobinspiegel.«
Er sah seine Frau an. »Ich darf jetzt keinen Fehler machen. Ich darf Sophie noch nicht