Ihre Mutter stieß einen gellenden Schrei aus.
»Sheriff!« schrie jetzt Amely. »Mr. Hawkins! So kommen Sie doch endlich zu sich.«
Tatsächlich regte sich der Sheriff jetzt.
Aber schon hatte der Ohioman ihn mit einem neuen Hieb wieder betäubt, und auch der Deputy mußte noch einen knackenden Schlag einstecken, der seine Ohnmacht verstärkte.
»Das ist Ihr Tod, Tancred!« stieß das Mädchen hervor. »Jetzt sind wir gleich in Dodge. Da werde ich…«
»Gar nichts werden Sie!« herrschte der Mann sie heiser an.
Er hatte den Revolver in der Hand und ließ den Hahn knacken.
»Wenn wir in die Station einlaufen, werden Sie still neben Ihrer Mutter sitzen bleiben.«
»Das werde ich nicht!«
»Dann sterben Sie!« hatte er rauh und entschlossen hervorgestoßen. »Sie werden sich doch nicht einbilden, daß ich mich von so einer unreifen Gans zu Fall bringen lasse. Sie halten Ihren Rand und bewegen sich nicht! Denken Sie daran: Der geringste verräterische Laut trägt Ihnen die Todeskugel ein.«
Der Zug fuhr in die Frontstreet von Dodge City ein.
Fern am Horizont kroch der erste noch sehr vage Silberstreif des kommenden Tages heraus.
Kreischend zogen die Bremsen an.
Die Lok stieß einen schrillen Pfiff aus.
Die schlafende Stadt wurde durch diese Geräusche nicht etwa geschreckt, sie kannte sie seit Jahren und war daran gewöhnt wie etwa an das Brüllen der vielen tausend Rinder, die immer wieder hier heraus zum Verladen getrieben wurden.
Niemand kam an den Wagen, aber draußen waren Schritte zu hören.
Die beiden Frauen saßen wie angenagelt da.
Da kam plötzlich der Sheriff zu sich.
Tancred packte ihn und hielt ihm den Mund zu, während er ihm den Revolverlauf in den Rücken stieß.
»Keinen Laut, Mister, es wäre Ihr letzter!«
»Sheriff«, wagte Amely zu zischen, »er hat Sie überrumpelt. Wir sind in Dodge Ci…«
»Ruhe!« fauchte Tancred sie an. »Sie bringen den Sheriff in Lebensgefahr!«
Das Mädchen schluckte und schwieg jetzt.
Wieder schrillte der Pfeifton von der Lokomotive. Dann rollte der Zug an. Erst ruckhaft und die Passagiere durchschüttelnd, dann fuhr er ruhiger und gleichmäßiger.
Tancred wartete nur etwa zwei Minuten.
Dann stieß er den Sheriff zur Seite und rannte hinaus.
Hawkins folgte ihm sofort.
»Vorsicht!« mahnte Amelys Mutter. »Er ist zu allem entschlossen!«
Als Hawkins an die offene Tür kam, war der Gefangene schon abgesprungen und im Schwarzgrau der Uferböschung des Arkansas River verschwunden.
Der alternde Sheriff hatte nicht den Nerv, ihm nachzuspringen.
Aber da war Engelen schon neben ihm.
Er schob den Sheriff beiseite und jumpte hinaus.
Hawkins hörte noch den scharfen Schrei, den der Deputy ausstieß. Er war unglücklich aufgekommen und hatte sich das Wadenbein gebrochen…
Jonny Tancred war entkommen.
Erst geduckt, dann aufrecht verließ er die Nähe des Schienenstranges und wandte sich landeinwärts.
Als Sheriff Hawkins auf den Gedanken kam, die Notbremse zu ziehen, hatte der Zug schon anderthalb Meilen zurückgelegt.
*
Anderthalb Stunden hatte der Flüchtling gebraucht, sich an die kleine Farm am Westrand von
Dodge City heranzuschleichen.
Er brauchte ein Pferd!
Wichtiger als alles andere.
Und auf einer Farm gab es auch Pferde. Meistens jedenfalls.
Schon von weitem hatte er den Corral gesehen. Unter dem Regendach konnten Pferde sein. Es war ziemlich kühl, und die Tiere drängten sich um diese Jahreszeit meistens unter diese Schutzdächer, wenn sie im Freien gelassen wurden.
Der Corral war leer.
Tancred schlug die Zähne knirschend aufeinander.
Mit schweißnassem Gesicht kauerte er vor dem Gatter und starrte in die dunklen Ecken des Hofes.
Da drüben mußte der Stall sein!
Er schlich wie eine Ratte zum Hof hinüber.
Da drang dem einstigen Horseman der scharfe unverkennbare Geruch von Pferden in die Nase.
Er hätte einen Jubelschrei ausstoßen mögen.
Im Osten wurde es heller. Er mußte sich beeilen. Die Menschen auf den Ranches und Farmen standen immer sehr zeitig auf. Das würde hier im Westen kaum anders sein als oben in Ohio.
Auf Zehenspitzen huschte er an der Scheunenfront entlang auf den kleinen niedrigen Stallbau zu.
Nur eine einzige Minute trennte ihn jetzt noch von der furchtbaren Tat, die er gar nicht hatte begehen wollen…
*
Der kleine Harry war nur ein Negerjunge.
Nur! Das sagte genug! Zuviel eigentlich schon.
Seit der Vater unten in der Dodger Frontstreet tödlich von einer Banditenkugel getroffen worden war, wurde der Junge und seine kranke Mutter herumgestoßen. Er arbeitete hier und dort und überall. Seit einem Jahr war er hier auf Justins Farm beschäftigt. Weil er so gut mit den drei Pferden umzugehen verstand, die Wagen pflegte, die Pferde sauber hielt und den Stall und überhaupt den ganzen Farmhof in Ordnung brachte, duldeten ihn die Justins, die sonst absolut nichts für einen Farbigen übrig hatten. Sie hatten so wenig für ihn übrig, daß es nicht einmal eine Schlafkammer für den kleinen Negerjungen auf der Ranch gab.
Er schlief im Stall. Hinten auf der Futterkiste lag er.
Im Sommer war das noch ganz gut, aber jetzt, da es kalt wurde, war es keine Freude mehr.
Harry deckte sich mit Stroh zu, das er am anderen Morgen immer wieder säuberlich wegschaffte, um den Boß, einen griesgrämigen französischen Emigranten, nicht zu verstimmen.
Harry nahm alles auf sich, auch die Kälte, die hier im unteren Ende des Stalles herrschte; er mußte ja für die kranke Mutter sorgen, die am Ortsrand der Stadt, unten am Fluß, im Anbau des Hauses einer alten Frau wohnte, die einmal eine Bar gehabt haben sollte und bei der Harrys Mutter so lange gearbeitet hatte, wie sie arbeiten konnte.
Er sorgte für die Mutter. Die wenigen Cents, die er hier auf der kleinen Ranch verdiente, kamen alle der Kranken zugute. Er selbst sah zu, daß er mit dem auskam, was ihm die Farmersleute zuwarfen, wie man etwa einem Hund, den man nicht eben haßte, etwas zuwarf.
Der Marshal von Dodge City, der berühmte Wyatt Earp, verstand niemals, daß es ausgerechnet diesen armen Teufel so fürchterlich treffen mußte…
An jenem Morgen lag der kleine Junge hier wieder auf der Futterkiste unter seinen Strohdecken. Er schlief längst nicht mehr. Die beißende Kälte und die Ratten hatten ihn schon vor einer halben Stunde aufgeweckt.
Und hatte da nicht eines der Pferde ein unruhiges ängstliches Schnauben ausgestoßen?
Harry richtete sich in sitzende Stellung auf.
Da, das Pferd schnaubte wieder, diesmal lauter.
Es war der Graue, den er besonders gern hatte!
Und dann hörte der Junge das Geräusch an der Tür.
Ein