Er stieß den Gefangenen an und schob ihn auf den letzten Wagen zu.
Das Mädchen hatte ihn aus großen erschrockenen Augen angestarrt.
»Was war das, Mama?«
»Ich weiß es nicht, Kind.«
»Was hat der Mann getan?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ist das vielleicht dieser Tancred, oder wie nannte er sich, der Grenzgeldjäger, den sie geschnappt haben…«
»Ich weiß es nicht, Amely!« sagte die ältere Frau ärgerlich.
»Doch, das muß er sein. Es stand doch heute morgen in der Zeitung. Sheriff Hawkins muß ihn nach Sescattewa bringen! Ist das nicht schrecklich? Dieser junge Mann! Sicher hat er auch eine Mutter…«
»Sei endlich still, Amely!«
»Komm, Mama, wir steigen auch hinten in den Wagen.« »Bist du von Sinnen?«
Aber das Mädchen eilte schon auf den letzten Wagen zu und stieg ein.
Direkt gegenüber von John Tancred ließ sie sich nieder, um ihn mit einer Mischung von Angst, Neugier, Abscheu und Grusel zu betrachten.
»Das ist also der Mörder, nicht wahr, Sheriff?«
»Ja, Miß Henderson«, krächzte Hawkins mürrisch.
»Sie bringen ihn nach Sescattewa?«
»Ja.«
Sie schwieg eine Weile, dann fragte sie den Ohioman direkt:
»Weshalb haben Sie es getan?«
»Miß Henderson, es ist verboten, mit dem Gefangenen zu sprechen«, sagte Hawkins heiser.
»Ihnen mag es verboten sein, Sheriff, mir nicht!«
Sie hatte es so schroff gesagt, daß der Verurteilte aufblickte.
»Ah, er kann den Kopf ja noch bewegen«, sagte sie. »Nun, das wird in den Steinbrüchen sowieso anders werden, da gibt’s Schläge, wenn er nicht gehorcht! – Ich habe Sie etwas gefragt, Tancred!«
Der Ohioman hatte eiskalte graue Augen, die das Mädchen zu durchbohren schienen.
Plötzlich sprang Amely Henderson auf.
»Sheriff! Haben Sie gesehen, wie er mich angesehen hat! Er würde mich umbringen, wenn er könnte!«
»Nicht unbedingt, Miß«, sagte da der Gefangene.
Amely schrak zusammen.
Welch eine Stimme. Rauh und hart. Kalt und gnadenlos. Ja, das war die Stimme eines Mörders.
»Sie ist die Tochter des Gouverneurs«, sagte der Sheriff, und es war nicht klar, zu wem er es gesagt hatte.
Der Zug rollte weiter nach Westen.
Es wurde rasch dunkel, und dann kam die Nacht.
Ängstlich und halbohnmächtig vor Furcht, kauerte die Frau des Gouverneurs in ihrer Ecke und lauschte auf die Atemzüge der Männer drüben.
Tancred saß aufrecht zwischen den beiden Sternträgern und sah das Mädchen an.
Und dann fragte Amely Henderson auf einmal: »Sagen Sie mir bitte, weshalb Sie es getan haben.«
»Ich habe es nicht getan«, kam es in die Stille hinein, die jedoch von dem Rattern, Stoßen und Stampfen des Zuges erfüllt war.
»Weshalb lügen Sie?«
»Ich lüge nicht.«
Wieder war es still.
Für Stunden.
Die ehrgeizige kleine Amely Henderson schloß kein Auge. Viel zu aufregend war diese Fahrt für sie. Vorn das reservierte Abteil mit den Polsterbänken und den Gardinen an den Fenstern war leer.
Madam Henderson dachte dauernd daran, aber sie wagte es sich nicht gegen ihre egozentrische Tochter durchzusetzen.
Es mochte etwa vier Uhr sein, als Amely leise sagte: »Sie hätten ein Gnadengesuch schreiben können.«
Tancred schüttelte den Kopf.
»Weshalb sagen Sie dann, daß Sie unschuldig sind?«
»Ich bin unschuldig!«
Sie wischte sich durch die brennenden Augen und nahm ihr Taschentuch aus dem Reisekörbchen, um es sich vor die Nase zu pressen.
»Es riecht scheußlich hier. Mr. Hawkins hat den ganzen Tag seine scheußliche Pfeife geraucht…«
Hawkins knurrte: »Es tut mir leid, Miß…, aber ich muß den Mann ja im Auge behalten. Und wenn ich auf einer Station einmal hinausgehe, muß er mitkommen, damit Mr. Engelen ihn mit dem Revolver bewachen kann. Wir dürfen ihn keine Sekunde aus den Augen lassen.«
»Das haben Sie schon fünfmal gesagt, Sheriff«, versetzte das Mädchen brüsk. Und dann wandte es sich wieder an den Horseman. »Sie sind also schuldig?«
»Muß ich es nicht sein, Miß, da mich doch der Richter in Fort Scott verurteilt hat?«
»Sie hätten ein Gnadengesuch einreichen sollen!«
Da lachte der Ohioman rauh auf.
»Schweigen Sie, Miß. Ihr Vater wird es Ihnen zu danken wissen. Neugierige Töchter sind nichts für einen Gouverneur!«
Da stieß sie mit dem Schirm nach seinem Bein.
»Sie sind ein Mörder und werden bis an Ihr Lebensende in den Steinen schmachten. Und das ist gut so. Wenn Sie glauben, das Gnadengesuch verlachen zu können, dann helfen Sie sich selbst, wenn Sie können.«
»Wie Sie meinen!« Der Ohioman hatte es gesagt, die Rechte aus der Tasche gerissen und den Colt hämmernd gegen den Schädel des Sheriffs geschlagen, der nächste blitzschnelle Schlag traf den Kopf des Deputies.
Wie Mehlsäcke rutschten die beiden Sternträger zur Seite und fielen betäubt von den Bänken.
Amelys Mutter war aufgewacht und stieß einen spitzen Schrei aus.
Erstarrt vor Schreck saß das Mädchen da und starrte den Mann an.
»Haben Sie noch einen Wunsch, Miß Henderson?« fragte der Cowboy rauh, während er dem Sheriff und dem Deputy die Waffen wegnahm, das Fenster herunterriß und drei Revolver und zwei Messer hinausschleuderte.
Amely hatte den ersten Schock überwunden.
»Was haben Sie vor?«
»Eigentlich sollte ich Sie ja für Ihr vorlautes Mundwerk bestrafen, Miß. Aber Sie sind mir tatsächlich zu dumm!«
Er trat ans Fenster und sah hinaus.
»Springen Sie nur vom Zug. Sie werden nicht weit kommen. Wissen Sie, wo wir hier sind? Kurz vor Dodge City! Wyatt Earp ist hier Marshal. Dem entkommen Sie nicht.«
»Vielen Dank für den Rat, Miß.«
Er verließ das Abteil, öffnete eine der Türen und hängte sich an den Haltegriffen weit hinaus.
Der Zug fuhr noch ziemlich schnell.
Doch dann besann sich der Ohioman und zog sich in den Wagen zurück.
Was hatte ihn nur so kopflos gemacht?
Der Name Wyatt Earp?
Ja, das war es! Wyatt Earp! Er war hier in Dodge City Marshal. Und deshalb hatte er schon vor der Stadt abspringen wollen.
Aber das war Wahnsinn. Denn wenn er hier absprang, würde das sensationslüsterne Girl auf der Station ganz sicher veranlassen, daß der Marshal mobil gemacht wurde.
Und das war genau das, was er nicht gebrauchen konnte.
Hatten sie erst diese gefährliche Station hinter sich, dann konnte er immer noch abspringen.
So