Ich erzählte Ursula wie alles angefangen hatte. Nach einer Viertelstunde waren wir so ins Gespräch vertieft, dass sich Siegfried Bornecker vor uns stehend durch lautes Räuspern bemerkbar machen musste. Alle drei lachten wir. Auch Bornecker sah viel jünger aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er trug einen Rucksack, der überhaupt nicht zu seinem Mantel aus edlem Zwirn passte. Bornecker war braun gebrannt und wirkte insgesamt sehr vital, keineswegs wie ein Rentner jenseits der achtzig. Er meinte, er käme gerade aus Italien – Skifahren in den Dolomiten. Von München aus sei das ja nicht weit …
Wie geplant fuhren wir mit dem Taxi zum Dom und gingen in eines der beiden Gasthäuser. Siegfried Bornecker ging zielstrebig voran und wählte einen geeigneten Tisch für unser Vorhaben – hell genug und groß genug. Es war bizarr, denn er betrachtete den Schankraum als sein ausgelagertes Büro. Bornecker nahm den Tisch in Beschlag, breitete Unterlagen darauf aus und schickte den Kellner, der unsere Bestellung aufnehmen wollte, zwei Mal weg. Ich fragte mich, ob das der übliche Gang der Dinge war, wenn sie für ein paar Stunden nach Naumburg einflogen, um ihre Geschäfte zu erledigen. Der Kellner tat mir leid, aber ich wollte mich nicht einmischen. Wir hatten so viel zu erzählen, dass auch ich es als störend empfunden hätte, etwas zu essen. Als der Kellner den dritten Anlauf nahm, bestellten wir schließlich.
Ich mochte beide auf Anhieb. Die Art, wie sie von ihren Großeltern sprachen, die Ernsthaftigkeit, mit der Siegfried Bornecker versuchte, die letzten Rätsel des Verschwindens seines Großvaters zu entschlüsseln, ohne dabei verbohrt zu sein, imponierte mir. Und mir gefiel eines ganz besonders. Obwohl die Familie damals den Großteil ihres Besitzes verloren hatte, Adolph Dattan ohne Grund in der Verbannung hatte ausharren müssen und dann von Sowjets zur Geschäftsaufgabe gezwungen wurde, hegten sie keinen Groll gegen Russen. Vielleicht war es einfach zu lange her. Siegfried und Ursula waren in Hamburg groß geworden, sie hatten nie einen unmittelbaren Bezug zum Naumburger Familiensitz gehabt, weil dieser in der „Ostzone“ lag. Sie hatten nie in einer Diktatur gelebt und deshalb betrachteten sie das Unrecht, das der Familie angetan wurde, nie als ihrige. Es war etwas, das nicht unmittelbar sie betraf. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass Adolph Dattan trotz des immensen Verlustes nicht als Armer zurückgekehrt war. Er hatte seiner Familie einiges hinterlassen, zumindest schienen sie nicht an materieller Not zu leiden. Was sollten sie also verflossenem Geld nachtrauern?
Kaum hatten wir gegessen, kam auch schon der Schornsteinfeger, um die Kehrmodalitäten für verschiedene Immobilien zu klären. Auf dem Tisch häuften sich die Papiere. Einzugsermächtigungen wurden erteilt, Rechnungen geprüft, Gutachten in Auftrag gegeben. Immerhin durfte der Kellner jetzt ohne zweite Nachfrage einen Kaffee bringen. Es amüsierte mich, Ursula und Siegfried bei ihren Geschäften zu beobachten, weil sie so normal bodenständig waren und fast beschaulich wirkten, obwohl sie hier am Tisch Millionenobjekte verwalteten.
Der Handwerker verschwand und uns blieb nur noch eine Viertelstunde bis zum nächsten Termin in der Dattan-Villa. Bislang hatten wir nur geplaudert, aber nichts Handfestes verabredet. Ich wusste nicht einmal, ob ich nun die Richtige war. Offenbar hatte Siegfried Bornecker bemerkt, dass ich darüber nachdachte.
„Wissen Sie Frau Stehr, wir wollen niemandem schaden. Wir wollen nichts zurückhaben. Jahrzehntelang haben wir nicht einmal gewusst, dass es das alles noch gibt – die Kaufhäuser, die Wohnhäuser, das Elektrizitätswerk und die Landhäuser. Meine Mutter hatte mir von klein auf eingetrichtert, dass ich nie nach Russland fahren dürfe, weil dort das Böse warte. Ich musste ihr das hoch und heilig versprechen. Und daran habe ich mich gehalten. 1997 ist sie dann gestorben und drei Jahre später bin ich das erste Mal gefahren. Es war wie eine Reise in eine andere Welt. Die Vorstellung, dass mein Großvater dies alles mitgeschaffen haben sollte, kam mir fast unheimlich vor. Ab da begann mich das ganz konkret zu interessieren, weil ich ein Bild im Kopf hatte. Ich fing an, nach allen nur denkbaren Hinweisen zur Familiengeschichte zu suchen. Und ich erfuhr, dass mein Großvater offenbar Tagebuch geführt hatte. Ich wusste es von Georg Albers. Er hatte die Geschäfte von seinem Vater übernommen. Und dieser hatte damals eine Firmenchronik zum 75-jährigen Geschäftsjubiläum herausgegeben. Georg Albers war im Besitz der Unterlagen. Bei meinem Besuch merkte ich sofort, dass ich nicht sonderlich willkommen war, auch wenn er sich höflich und korrekt verhielt. Es war eine kühle Atmosphäre, eine unnahbare Stimmung, die vor allem von seiner Frau ausging. Vielleicht hätte er allein sich ganz anders verhalten, aber seine Gattin ließ nur ein kurzes Gespräch unter vier Augen zu. Irgendetwas schien ihr zu missfallen. Mir war klar, dass ich Albers bei diesem Treffen regelrecht ausquetschen musste. Ich wollte so viel wie möglich erfahren und alle verfügbaren Materialien bekommen, ahnte ich doch, dass es keinen zweiten Besuch geben würde. Albers gab mir einiges, darunter ein paar lose Seiten, die wie Tagebuchnotizen aussahen, jedoch fehlten Datums- oder Ortsangaben. Jahre später sortierte ich den Nachlass meines Onkels Gori.“
Siegfried Bornecker hielt inne.
„Warum erzähle ich Ihnen das, Anna?“ Er schaute mich eindringlich und auffordernd an. Doch ich wollte nichts sagen, sondern einfach nur zuhören. Deshalb zuckte ich bloß mit den Schultern und machte ein fragendes Gesicht.
„Weil Gori etwas hatte, worum es uns hier und heute geht. Wissen Sie, was ich zwischen dem ganzen Schriftkram, den er gehortet hatte, fand?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Tagebuchnotizen von meinem Großvater. Er hatte in der Verbannung Tagebuch geschrieben. Es waren keine hastigen Notizen, handschriftlich mit dem Bleistift gekritzelt, sondern ausführliche Reflexionen, säuberlich mit der Schreibmaschine getippt. Darunter auch die Blätter, die ich bereits von Albers erhalten hatte und nicht einordnen konnte. Nun wusste ich, was es damit auf sich hatte. Diese Notizen hatten ein Deckblatt. Und nur wegen dieser einen Seite sitzen wir heute hier zusammen.“
Ich grübelte, was auf dieser einen Seite gestanden haben mochte. Es musste etwas gewesen sein, das nun von außerordentlicher Bedeutung war. Was steht auf so einem Deckblatt? Der Name, vielleicht auch noch Ort und Zeitpunkt der Aufzeichnung. Was sollte daran also so besonders, so außergewöhnlich sein? Bornecker wusste doch, wo sein Großvater in der Verbannung gesteckt hatte. Auch den Zeitraum hatte er mir genannt. Was also bewegte ihn so dermaßen?
Dann holte er dieses eine, dieses wichtige Blatt aus einer Mappe und legte es vor mir auf den Tisch. Ich schaute auf das Blatt und Bornecker beobachtete mich dabei ganz genau. Und auf einmal war mir klar, dass das die Prüfung war. Das, was ich nun sagen würde, entschied darüber, ob ich den Auftrag erhielt oder nicht. Ich las:
A. Dattan
MEINE VERBANNUNG IN DEN NARYMER KREIS,
Gouvernement Tomsk, West-Sibirien.
IV. Teil
Von Januar 1919 bis Januar 1920
Bornecker schaute mich noch immer prüfend an. Ich kam mir vor, wie ein rettender Prinz im Märchen. Einer, der den Drachen in der Höhle besiegen musste, um die Prinzessin zu retten. Einer, der nur dann Zutritt zur Drachenhöhle erhielt, nachdem er die alles entscheidende Frage richtig beantwortet hatte.
Aber ich hatte keine Ahnung. Was sollte ich sagen? Was ich las, war belanglos. Es war banal. Ich schaute noch einmal auf die fünf Zeilen und dann ging mir ein Licht auf. Aber natürlich … Ich hatte gelesen, dass Adolph Dattan bereits im Januar 1915 verbannt worden war. Das war es, vor mir lag das Deckblatt vom vierten Teil. Es musste noch mindestens drei weitere Teile geben.
„Sie suchen Teil 1, 2 und 3, Herr Bornecker. Habe ich recht? Und ich soll sie Ihnen beschaffen, aus Russland, stimmt’s?“
Bornecker strahlte. Die Drachenhöhle öffnete sich und die Rettung der Prinzessin konnte beginnen.
Danach ging alles ganz schnell. Wir beredeten ein paar organisatorische Dinge und verabredeten ein nächstes Treffen. Als wir das Café verließen, wurde Siegfried Bornecker