Dattans Erbe. Nancy Aris. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nancy Aris
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954627646
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Sie mühte sich redlich. Schon wieder musste ich lachen.

      Mein Zimmer war nicht halb so glamourös wie die Lobby, aber egal, ich hatte ein Dach über dem Kopf und konnte den schweren Rucksack abwerfen. Endlich duschen. Nach dem langen Flug war das dringend nötig.

      Als Allererstes wollte ich das Kaufhaus sehen, schließlich das Ziel meiner Reise. Kunst & Albers, das erste Haus am Platze, lag natürlich auch auf der Swetlanskaja. Ich hatte es also nicht weit. Das Kaufhaus war immer noch Kaufhaus, schon von Weitem sah ich die Leute hineinströmen und mit Einkaufstaschen bepackt hinauskommen. Es war komisch. Für mich war es ein mythisch aufgeladener Ort. Bornecker hatte so viel darüber erzählt, ich hatte Unmengen dazu gelesen. Für mich war es viel mehr als einfach nur ein Kaufhaus. Davor stehend fragte ich mich, ob die Passanten eine Ahnung davon hatten, was hier vor über hundert Jahren passiert war. So ein Quatsch, dachte ich.

      Eigentlich war schon der erste Blick von außen ernüchternd. Ich weiß selbst nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht lag es daran, dass vieles von dem, was ich gelesen hatte, die Anfangszeit beschrieb. Damals war das stattliche Gebäude das einzige Bauwerk aus Stein und Eisen weit und breit. Die Baumaterialien hatte man extra aus Hamburg per Schiff herangeschafft. Das Kaufhaus thronte wie ein Monolith über der Innenstadt. Ringsherum gab es nur Holzhütten, die Straße war nicht einmal befestigt. Heute sah alles anders aus. Kunst & Albers, das seit der Verstaatlichung unter dem Namen GUM firmierte, war komplett umbaut. GUM war die Abkürzung für „Staatliches Kaufhaus“. Es markierte in jeder sowjetischen Stadt den zentralen Einkaufspunkt. Das berühmteste stand in Moskau, direkt am Roten Platz.

      Als ich ins Innere trat, dachte ich, dass der Einkaufstempel zwar immer noch GUM hieß, es aber kein Kaufhaus mehr war, ein staatliches schon gar nicht. Ich bemerkte, dass von den großzügigen Hallen kaum noch etwas geblieben war. Der einstige Glanz war verschwunden. Offenbar hatte man das Gebäude an verschiedene Händler verpachtet und die Mietfläche dementsprechend aufgeteilt. Dafür hatte man umbauen müssen. Was ich sah, war übel: ein Kiosk neben dem anderen, Miniboutiquen, winzige Läden – abgehangene Decken, dazwischen Rigips-Wände. Die prächtigen Räume mit den edlen Holzvertäfelungen, den Regaleinbauten, den Säulen und Stuckverzierungen gab es nicht mehr. Geblieben war nur noch die Hülle. Nur zwei Relikte konnte ich ausmachen: einen Raum im Erdgeschoss mit den schönen Hamburger Mosaikfliesen, mit denen die Fußböden kunstvoll ausgelegt waren, und zwei gusseiserne Heizkörper in einer Nische im Eingangsbereich. Wahrscheinlich hatte man beides bei den Renovierungsarbeiten übersehen. Nur deshalb hatten sie als Überbleibsel einer längst vergangenen Ära überlebt.

      Ich ging schnell raus, wollte ich mir nicht gleich den ersten Tag verderben. Der Nebel über der Bucht war verschwunden, herrlichster Sonnenschein empfing mich. Auch wenn ich todmüde war, weil der Jetlag an mir zehrte, wollte ich noch ans Meer. Ich schlenderte die Flaniermeile hinunter zur Strandpromenade und setzte mich ans Ufer. Ja, hier konnte man es aushalten. Die Stimmung war viel entspannter als in Moskau, die Menschen saßen auf Bänken, aßen Eis und flanierten, statt mit Tunnelblick und ausgestreckten Ellenbogen aneinander vorbeizuhetzen. Festpavillons an der Promenade kündigten ein Filmfestival in den nächsten Tagen an.

      Ich musste an Zuhause denken. Martin und Paul waren nicht sonderlich begeistert von dieser Reise. Verübeln konnte ich es ihnen nicht, war ich doch erst vor einem Jahr völlig überstürzt auf eine schottische Insel aufgebrochen und drei Monate dort geblieben. Martin beobachtete diese Rastlosigkeit mit Sorge. Doch eigentlich gab es keinen Grund dazu, denn genau genommen war die Tour hierher ein ganz normaler Job und alles war wohlgeordnet. Außerdem wusste er nur zu gut, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, mir Dinge auszureden, weil ich es dann erst recht machen würde. Manchmal tat er mir leid. Andererseits … er selbst arbeitete zwölf Stunden am Tag, hatte nie Zeit. Was sollte er sich also aufregen? Vielleicht würde ich nicht lange bleiben, wer weiß, was mich hier erwartete. Dieses Tagebuch konnte sonst wo liegen. Eigentlich war es wahrscheinlicher, dass ich es in Kolpaschewo oder in Tomsk finden würde. Dort, wo sich Dattan während seiner Verbannung aufgehalten hatte. Warum also ausgerechnet Wladiwostok? Warum hätte er es hier lassen sollen? Wenn er die Aufzeichnungen auf dem langen und beschwerlichen Weg von Kolpaschewo bis Wladiwostok mitgenommen hatte, warum sollte er dann nur einen Teil der Unterlagen mit in seine Heimat, nach Naumburg, genommen und einen Teil hier zurückgelassen haben? Das war vollkommen unlogisch. Mittlerweile war ich der Ansicht, dass die Suche in Deutschland oder bei den Angehörigen, die nunmehr über die ganze Welt verstreut lebten, viel sinnvoller wäre. Es war grotesk, denn ursprünglich war ich diejenige, die unbedingt hierher wollte. Aber irgendwann war ich von der Suche nach dem Tagebuch so eingenommen, dass ich jede Fährte verfolgte, egal, wohin sie führte. Mein herbeigesehntes Russlandabenteuer geriet dabei fast ins Hintertreffen. Doch Bornecker mochte nicht auf mich hören, er wollte unbedingt, dass ich dort begann, wo auch damals alles begonnen hatte. Er bestand darauf, weil er felsenfest daran glaubte, dass die Suche nach der Nadel im Heuhaufen nur dann gelänge, wenn allem Anfang ein besonderer Zauber innewohne. Und dieser Zauber konnte sich nur am authentischen Ort entfalten. Ich tat ihm den Gefallen. Schließlich war ich diejenige, die unbedingt nach Russland wollte, für die die Recherche anfangs nur willkommener Anlass war. Bornecker war es, der dieses Abenteuer bezahlte. Außerdem war er jemand, dem man nichts abschlagen konnte. Jetzt fand ich, dass er richtig gelegen hatte. Ich war froh, diesen weiten Weg auf mich genommen zu haben.

      Am nächsten Tag ging ich ins Archiv. Es befand sich mitten im Zentrum, nur ein paar Minuten zu Fuß. Zu Hause hatte ich mir über meine Kontakte zu verschiedenen Dozenten ein paar Empfehlungsschreiben ausstellen lassen. Ohne ein amtliches Schreiben ging in Russland nichts. Stempel waren wichtig. Und ich hatte meinen Besuch und den Grund meiner Recherche angekündigt. Natürlich hatte ich das Tagebuch nicht erwähnt. In Russland erwähnte man das, was man wollte, besser nie sofort und nie direkt. Man umkreiste die Dinge behutsam.

      Der Wachhabende am Eingang kontrollierte meinen Pass, notierte sich die Daten und schickte mich direkt in den Lesesaal. Meine Sachen sollte ich einschließen. Im Lesesaal begrüßte mich eine hagere Dame um die fünfzig. Auch dort der obligatorische Eintrag ins Besucherbuch und die Frage nach dem Empfehlungsschreiben, das mich berechtigte, dort zu recherchieren. Ich wusste es. Auf meine erste Anfrage hin hatte man mir mitgeteilt, dass ich nichts dergleichen bräuchte und einfach so kommen könne. Ich wollte mich darauf nicht verlassen, weil ich wusste, dass in Russland Stempel verehrt, gefürchtet und geliebt wurden. Wer einen Stempel hatte, hatte das Sagen, wer etwas Gestempeltes vorzeigen konnte, hatte recht. Eine Unternehmung war erst dann von Bedeutung, wenn sie durch ein Schreiben unterfüttert war. Je gewichtiger der Absender, umso bedeutungsvoller das Vorhaben. Ich war froh, meinen Erfahrungen vertraut zu haben.

      Nachdem ich eine Reihe von Papieren ausgefüllt hatte, wurden mir sogleich die ersten Akten gebracht. Sie hatten das aufgrund meiner E-Mail-Anfrage schon vorbereitet. So etwas hatte ich in Moskau nie erlebt. Dort musste man grundsätzlich erst einmal zwei Tage warten.

      Das war es also, das Archiv des Fernen Ostens. Es hörte sich groß an. Groß und sagenumwoben. Was ich sah, war alles andere als das. Der Lesesaal war unwesentlich viel größer als unser Wohnzimmer. Dennoch beherbergte er sechzehn kleine Arbeitstische, in vier Reihen aufgestellt. Auf der rechten Seite des Raumes gab es ein paar Computerarbeitsplätze und in der Ecke stand der Schreibtisch von Ljudmila Petrowna. Ich setzte mich in die zweite Reihe. Ein bisschen fühlte ich mich wie in der Schule. Vielleicht lag es auch am strengen Blick der Aktenverwalterin. Aber immerhin saß sie mit uns in einem Raum, war Teil des Ganzen. In Moskau bekam man seine Akten aus einer Luke herausgereicht. Der Lesesaal war durch eine Wand von den Akten und den Archivmitarbeitern getrennt. Nur das unscheinbare Fenster bildete die Verbindung zu den dahinter befindlichen Aktenregalen. Doch der Aktenbereich war tiefer gelegen, weil er offenbar zu einem anderen Gebäudeteil gehörte. Jeder, der etwas bestellen wollte oder eine Frage an die Archivare hatte, musste sich in Bückhaltung begeben, weil die Mitarbeiter wegen des Höhenunterschiedes ansonsten nur die Bäuche der Archivnutzer gesehen hätten. Man hätte in die Hocke gehen können, weil die Ausgabeluke ohnehin niedrig war. Doch um etwas Würde zu behalten und dies zu vermeiden, hing man schräg oder kopfüber. Ich hatte es gehasst damals, weil die Archivare ohnehin in