Nach dem Frühstück checkte ich aus, ließ aber mein Gepäck im Hotel. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass die Wohnung meine einzige Chance sei. Nadezhda sollte ruhig etwas im Ungewissen bleiben. Marina tat geschäftig gelangweilt wie immer und ich verabschiedete mich wie ein ganz normaler Hotelgast unverbindlich freundlich. Als ich aus dem Hotel heraustrat, sah ich sie sofort. Eine kleine drahtige Frau, bestimmt schon um die siebzig. Auch sie hatte so eine große Brille. Komisch, von fast allem hatten sie sich getrennt, nur die sowjetischen Brillen hatten offenbar überlebt. Nadezhda erkannte mich sofort und kam auf mich zu. „Guten Morgen Anna, was für ein Glück, dass wir uns treffen. Ich suche eine Mieterin und Sie eine Wohnung. Meine Nichte hat mir erzählt, dass Sie aus dem fernen Berlin gekommen sind. Was hat Sie denn hierher verschlagen, ans Ende des russischen Reiches?“ Sie fasste sich an den Hinterkopf und verzog das Gesicht. Offenbar litt sie an Migräne. „Naja, immerhin haben Sie Glück mit dem Wetter. Kommen Sie, wir nehmen den Bus. Zu Fuß ist es zu weit, das schaffe ich heute nicht, auch wenn die Sonne so herrlich scheint.“ Ich hatte noch keine Bustickets. Auch hatte ich nirgendwo einen Automaten oder ein Tickethäuschen gesehen. Nadezhda erklärte, dass man beim Fahrer bezahle, alles kein Problem. Sie plapperte ohne Unterlass und eilte im Stechschritt los, ich hatte fast Mühe hinterherzukommen.
„Das stimmt. Ich will hier etwas erforschen und ich möchte einer Person, die früher einmal hier gelebt hat, nachspüren. Vielleicht kennen Sie ihn? Es geht um Adolph Dattan.“ Nadezhda blieb stehen. „Gehört habe ich den Namen schon einmal, aber ich komme nicht darauf. War er Künstler?“
Wir liefen wieder weiter. „Nein, er war der letzte Geschäftsführer und Teilhaber von Kunst & Albers, dem großen Kaufhaus auf der Swetlanskaja.“
„Achja, richtig, das GUM. Eine wahre Augenweide, nicht wahr?“
Ich dachte an den zerstückelten Innenraum und an die vergammelte Hinterfassade, an die Birken, die auf den Balkonen gediehen. Nein, das Thema wollte ich jetzt nicht diskutieren und nickte deshalb nur.
Der Bus kam, wir fuhren ein paar Stationen. Bezahlt wurde beim Ausstieg. Egal wie viele Stationen man fuhr, der Preis war immer der gleiche, 17 Rubel. Wir liefen ein Stück. Ständig kamen uns Matrosen entgegen. Dann standen wir vor einem fünfgeschossigen Haus direkt am Meer. So, wie Marina es beschrieben hatte. Aber was war das denn? Genau vor das Haus hatte man ein Hochhaus hingesetzt, nur eine Straßenbreite dazwischen, obwohl nicht einmal 100 Meter bis zur Brandung blieben. Würde mir jemand so ein Monstrum vor die Nase setzen, müsste ich mich arg zusammenreißen, um friedliche Koexistenz zu praktizieren. Wir gingen in die dritte Etage. Irgendwie wirkte das Haus nicht wie ein normales Wohnhaus, sondern wie ein Wohnheim. Der Flur, von dem die Wohnungen abgingen, war fast hundert Meter lang. An der Decke flackerten Neonlampen, am Boden wellte sich ein hellbrauner PVC-Belag und an den Seiten bröckelte ein himmelblauer Ölsockel von den Wänden. Nadezhda schloss die Tür auf und da standen wir auch schon mitten im Zimmer. Vorn, direkt neben der Eingangstür war ein Tisch, auf dem eine Kochplatte stand, daneben ein Abtropfgitter für das Geschirr. Eine Küche gab es nicht. Der etwas überdimensionierte Kühlschrank – ein amerikanisch wirkendes Modell aus den Siebzigern – stand deshalb mitten im Zimmer. Die Einrichtung war spartanisch: ein Schlafsofa, ein Regal, ein Fernseher und ein Stuhl. An der Decke hing eine Neonleuchte, der Fußbodenbelag war der gleiche wie im Treppenhaus. Direkt gegenüber von der Kochecke, also rechts neben dem Eingang, befand sich das Bad. Ich schaute hinein und stellte sofort fest: Alles Marke Eigenbau, natürlich ohne Fenster, wo sollte das auch sein? Man hatte einfach eine Ecke vom Zimmer mit Spanplatten abgetrennt und Toilettenbecken, Duschtasse und Waschbecken darin installiert, ohne die Wände zu fliesen oder auch nur zu isolieren. Eine Duschkabine gab es nicht, von oben hing nur ringsherum ein lila geblümter Duschvorhang, der aussah, wie die Gummitischdecke von meiner Oma. Alles in allem waren es nicht mehr als 20 Quadratmeter. Nun ja. Luxus sah anders aus. Ich war nicht verwöhnt und konnte mit wenig auskommen, aber das hier war ganz schön wenig. Das Einzige, was diese Bruchbude zu bieten hatte und was für alles entschädigte, waren die drei großen Fenster. Der grandiose Blick aufs Meer, das einen Steinwurf entfernt vor sich hin plätscherte, hatte schon was. Wirklich toll. Ich überlegte. Vielleicht könnte ich eine Lampe kaufen, ein paar Kerzen aufstellen. Ich brauchte nicht viel, um mich wohlzufühlen. Trotzdem musste ich über den Preis verhandeln. Nadezhda schaute mich an, als ob sie mit mir den Spiegelsaal von Versailles präsentiert hätte. Ich erwartete nichts Gutes.
„Es ist nicht ganz so, wie ich mir meine zukünftige Bleibe vorgestellt hatte“, sagte ich etwas zögerlich, „aber vielleicht sagen Sie mir erst einmal, was Sie dafür haben wollen.“
Nadezhda setzte sich hin und schob ihre Brille nach oben. „Wissen Sie Anna, es ist äußerst schwierig, eine Wohnung zu finden, hier in Wladiwostok. Aus den umliegenden Dörfern und Kleinstädten wollen alle hierher und sie kommen in Scharen. Wenn sie in den Außenbezirken etwas finden, können sie schon froh sein. Aber hier sind sie direkt am Meer und trotzdem mitten in der Stadt. Es ist ruhig, kein Straßenlärm, der stört. Das gibt es so gut wie gar nicht auf dem Markt. Und …“
Nadezhda hielt den Atem an, um mit bedeutungsschwangerem Blick und tiefer Stimme fortzufahren. „Das kommt noch hinzu. Nicht zu unterschätzen. Das Haus befindet sich auf dem Campus der Meeres-Universität. Alles ist umzäunt und überwacht, hier gibt es keine Überfälle, keine Bettler, keine Störenfriede. So eine in jeder Hinsicht vorteilhafte Wohnung finden Sie woanders nicht noch einmal.“ Ich schaute mich um. Mein Blick glitt über die vergilbte, an einigen Stellen abgeschabte Blümchentapete in sepia, die vielleicht gerade noch zu Breschnews Zeiten modern war. An der Wand zum Bad entdeckte ich ein faustgroßes Bohrloch, durch das ein Kabel hing. Der durchfallbraune Bodenbelag warf Blasen und sah aus wie ein überdimensioniertes Pickelgesicht. An der Decke hing eine blanke Neonleuchte. Ich fragte mich, was nun kommen würde. Nadezhda wollte gerade ansetzen und genau in dem Moment rüttelte der Kühlschrank und sprang an. Ein Dröhnen durchzog das Zimmer. Nun fühlte ich mich auch noch wie in einer Motorenhalle. Das Ding würde als Erstes rausfliegen, dachte ich bei mir. Nadezhda musste nun deutlich lauter sprechen.
„Ich denke, wenn Sie mir 35 Eurochen die Nacht zahlen, wäre das ein gutes Geschäft für Sie. Ich mache das nur, weil Sie so interessiert an der Geschichte unserer Stadt sind. Von einem Fremden würde ich mehr nehmen.“
Ich überschlug das kurz. Pro Monat wären das über 1 000 Euro. Euro, nicht Eurochen. Es war absurd. Aber was sollte ich sagen, in Russland hatten alle, die im Immobiliengeschäft tätig waren, völlig übergeschnappte Vorstellungen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass der Wohnungsmarkt der einzige Bereich war, in dem sich für Normalbürger überhaupt noch einigermaßen Geld verdienen ließ. Die Menschen vermieteten, anstatt zu arbeiten. Es gab Familien, die in einer Wohnung zusammengepfercht dahinvegetierten, nur um die andere Wohnung teuer zu vermieten.
„Nadezhda Walentinowna, es tut mir leid, aber das geht nicht. Entschuldigen Sie, dass ich Sie ganz umsonst bemüht habe und Sie Ihre Zeit mit mir verschwendet haben, aber es geht einfach nicht. Wissen Sie zu Hause bezahle ich das Gleiche, aber da habe ich eine Wohnung mit fünf Zimmern. Riesige Räume mit tollen Stuckdecken und wunderschönen Holzfußböden, eine Wohnung mit Küche und zwei Bädern, mit Wintergarten, Balkon und Garten. Und dazu in einem Villenviertel, eine echte Nobelgegend. Da kann ich für das, was ich hier sehe, nicht das Gleiche bezahlen. Es ist ja nicht einmal eine Wohnung, sondern nur ein Zimmer. Und schauen Sie sich doch einmal um, alles ist provisorisch und abgenutzt.“
Ich überlegte, was so ein Zimmer bei uns kosten würde. Das Problem war, dass so etwas überhaupt niemand anbieten würde. „Ich kann Ihnen 300 Euro im Monat geben. Das ist in etwa der Monatslohn einer Verkäuferin. Ich denke, dass das real ist.“
Nadezhda sah aus, als ob sie gerade von einer Tarantel gestochen worden war. „Nein, 500!“
„Wissen Sie, ich gebe Ihnen 350, aber das ist mein letztes Wort. Bei uns würde man so ein Zimmer überhaupt nicht vermieten. Man würde es erst einmal renovieren und auf Vordermann bringen, bevor man es anbietet. Ich nehme es nur wegen des Ausblicks. Wenn Sie nichts dagegen haben, könnte ich es streichen, dann würde es schon viel freundlicher aussehen. Vielleicht eine neue Decke fürs Sofa, eine gemütlichere