Kaufhäuser … diese altmodischen Einkaufstempel, in die heute keiner mehr ging. Wann war ich das letzte Mal in einem Kaufhaus? Vor Jahren bei Harrots in London, im Lafayette in Paris oder bei Maceys in Los Angelos. Die typischen Touristenmagnete. Man kaufte nichts, sondern staunte nur. Zu Hause ging ich ab und zu in die gut sortierte Lebensmittelabteilung des KaDeWe, ansonsten kaufte ich nichts in Kaufhäusern.
Früher war das anders. Namen wie Karstadt, Wertheim und das berühmte KaDeWe, das Kaufhaus des Westens, waren jedem ein Begriff. Vielleicht wusste nicht jeder, dass Hertie ursprünglich Tietz hieß, in jüdischem Besitz war, von den Nazis arisiert und dann in Hertie umbenannt worden war. Hertie – eine Wortschöpfung aus den Anfangsbuchstaben des Eigentümers Hermann Tietz. Aber Kunst & Albers? Die kannte nun wirklich niemand. Zumindest ich hatte noch nie davon gehört.
Nach meinen ersten Recherchen im Internet besorgte ich mir allerhand Literatur und versank in den nächsten zwei Wochen in einer mir völlig fremden Welt. Fremd vor allem auch deshalb, weil die reiselustigen Unternehmer damals offenbar einen anderen Blickwinkel hatten. Sie hatten eine Region für sich entdeckt, die fernab von begehrten Karriere-Hotspots oder beliebten Urlaubsrefugien lag. Noch heute ist für die meisten der Osten Russlands eine Terra incognita – unerreichbar weit weg und gänzlich unbekannt. Und es stört niemanden, denn eigentlich interessiert sich keiner für diese Welt, die für rückständig und hinterwäldlerisch gehalten wird. Damals war das offenbar anders. Denn obwohl der Ferne Osten tatsächlich rückschrittlich war, schien er auf Gustav Kunst und Gustav Albers keine hinreichend abschreckende Wirkung gehabt zu haben. Je mehr ich las, umso klarer wurde mir, dass sie eine ganz eigene Geografie im Kopf hatten. Auf einer firmeneigenen Landkarte sah ich, dass Russisch Fernost genau in der Mitte ihrer Welt lag, eingebettet von Europa im Westen und Amerika im Osten. Diese für uns Mitteleuropäer ungewohnte Sicht gefiel mir. Vielleicht auch, weil ich in Geografie nie gut war, immer nur mit links und rechts, statt mit West und Ost operierte. Auf dieser Karte fand ich mich endlich darin bestätigt, dass jede Position relativ war und der östlichste Osten irgendwann westlichster Westen sein konnte. Vielleicht war das der Schlüssel. Gustav Kunst und Gustav Albers sahen sich gar nicht im Osten, sondern am westlichsten Zipfel des Westens. Mich beeindruckte, welch abenteuerliche Reisen beide auf sich genommen hatten, um nach Wladiwostok zu gelangen. Sie taten es, obwohl es so unvergleichlich viel komplizierter war als heute und obwohl dort nicht gerade das Schlaraffenland auf sie wartete. Anfangs hatte ich angenommen, dass sie betuchte Kaufleute waren, die dem Zeitgeist folgten und auf Entdeckungsreise nach Fernost aufbrachen. Einfach, um ihrer Hamburger Geschäftsroutine zu entfliehen, um den Alltag mit einer Prise Exotik aufzufrischen und in Geschäftskreisen als verwegen zu gelten. Dann las ich, dass sie alles andere als vermögend waren. Albers war einfacher Seemann und Weltenbummler. Er war fast noch ein Kind, als er anheuerte. Mit vierzehn stach er in See, fuhr nach Chile, Südafrika und Indien. Nach sechs Jahren kehrte er nach Hamburg zurück und legte seine Prüfung zum Steuermann ab. Bei seiner zweiten Fahrt in den Fernen Osten strandete sein Schiff kurz vor der mandschurischen Küste. Albers schlug sich daraufhin nach Shanghai durch. Kunst hingegen war Kaufmann. Nach seiner Kaufmannslehre in Hamburg war er mit zwanzig nach Ostasien gegangen. In Shanghai hatte er eine kleine, mäßig erfolgreiche Handelsfirma gegründet. Als er 1864 von einem Besuch in Hamburg nach Shanghai zurückkehrte, wählte er nicht die gängige Schiffsroute ums Kap der Guten Hoffnung, sondern eine alternative Strecke. Wochenlang war er durch Russland gereist, von einer Poststation zur nächsten. Mit Schlitten oder Kutsche, auf alten Handelsrouten oder Pelzjägerpfaden. Bevor er mit dem Schiff Richtung Pazifik aufbrechen konnte, musste er die Frühjahrshochwasser des Amur abwarten. Dann schipperte er 2 000 Kilometer auf dem mächtigen Strom entlang, immer Richtung Süden. Nach Monaten der Reise lernte er in Shanghai Albers kennen. Beide wurden Freunde und beschlossen, gemeinsam ein Unternehmen zu gründen. Sie waren damals Mitte zwanzig. In Deutschland schienen sie keine Zukunft für sich zu sehen. Aber auch von Shanghai versprachen sich beide nichts. Auf der Suche nach einem günstigen Standort kamen sie schließlich auf eine Gegend, die sie beide als Durchreisende kennengelernt hatten: die Amur-Bucht. Sie kauften eine Warenladung Lebensmittel, Stoffe und Werkzeuge. Dann charterten sie ein Schiff, die Meta. Sie war der Anfang von allem.
Ich versuchte mir das vorzustellen. In den Artikeln hatte ich nichts darüber gefunden, ob beide Russisch konnten. Aber selbst wenn. Man wäre damit nicht weit gekommen, lebten doch vor allem Chinesen, koreanische Fischer und irgendwelche nordsibirischen Ureinwohner in Wladiwostok. Stämme, von denen ich noch nie etwas gehört hatte: Jurchen, Mandschu und Golden.
Was also mochte sie damals dazu bewegt haben, sich in dieser gottverlassenen Einöde anzusiedeln? Eine Gegend, in der von September bis Mai Winter herrschte, wo es gerade einmal ein paar Holzhütten mit nicht einmal hundert Einwohnern gab? Mir war es unbegreiflich, denn Wladiwostok war ein winziger Marinevorposten, der gerade zwei Jahre zuvor gegründet worden war. Dort gab es weder die Verlockungen einer Großstadt, die die gebürtigen Hamburger aus eigenem Erleben kannten, noch die klimatischen Vorzüge südlicher Gefilde. Vielleicht war es einfach der Erfolg, der sie beflügelte und die unendlichen Möglichkeiten, die sie als Unternehmer in Wladiwostok hatten. Sie waren jung, hier konnten sie ausprobieren, was in Hamburg nie gegangen wäre. In kürzester Zeit wurden sie unsagbar reich. Mit dem Ersten Weltkrieg kam der Niedergang. Die Deutschen waren schließlich Kriegsgegner. Adolph Dattan wurde wegen Spionage verhaftet und für Jahre ins Innere Sibirien verbannt. Dann kamen die Bolschewiki an die Macht. Wladiwostok erreichten sie 1925. Sie läuteten unwiderruflich das Ende ein. Das Unternehmen hielt sich trotzdem noch bis 1930.
Was passierte in den letzten Jahren und wie konnte das alles überhaupt gehen?
Mit diesen Fragen und den ersten, eher diffusen Eindrücken kam ich nach Naumburg, wo ich Siegfried Bornecker und seine Schwester Ursula treffen sollte. Die Bahn machte dem perfekten Ablaufplan Borneckers einen Strich durch die Rechnung. Beide hatten Verspätung. Ich wartete wie verabredet in der Bahnhofsbäckerei.
Zuerst kam Ursula, eine kleine, zierliche Dame mit offenem und interessiert verschmitztem Blick. Ursula ging am Stock. Den habe sie nur, erklärte sie lachend, weil die Passanten so furchtbar nett wären. Seitdem sie den Stock habe, würde man in der Bahn für sie aufstehen und ihr sogar die Einkäufe in ihre Wohnung tragen. Im rauen Berlin war das etwas wert. Eigentlich bräuchte sie ihn nicht, denn sie sei noch gut zu Fuß. Und in der Tat, vor mir stand eine agile Person, die ich deutlich jünger geschätzt hatte. Ursula lächelte und ihre wachen Augen verliehen ihr trotz ihres hohen Alters einen Hauch Jugendlichkeit. Kaum hatte sie Platz genommen, erzählte sie von ihrem Leben und überhäufte mich mit einem Schwall an Fragen. Dann hielt sie plötzlich inne, griff meinen Arm, schüttelte den Kopf und lachte über sich selbst.
„Ich weiß, ich weiß. Ich bin immer so. Aber ich kann mich nur schwer zurückhalten, denn mich interessiert so vieles … Was mich aber am meisten interessiert, ist, wie Sie zu Russland gekommen