„Ich… Ich wollte Sie nur besuchen“, zitterte Eleonora. Misses Greenwood kam immer näher auf sie zu, Eleonora stand bereits mit dem Rücken an die Wand gedrückt. „Und… Und ihre siebte Puppe kennen lernen!“, fiel ihr da ein. Die Puppen waren für die Alte bisher immer ein gutes Thema gewesen, Eleonora betete, flehte im Stillen, dass sie sie damit ablenken konnte. „Wissen Sie noch, Misses Greenwood, sie haben mir vor ein paar Tagen Isabell vorgestellt und ihre Freundinnen. Aber die Schwester habe ich noch nicht kennen gelernt. Wie hieß sie noch? Annabell?“, stockte Eleonora und die alte Frau blieb stehen.
„Ihr Name ist Mirabell.“, antwortete sie ohne ihren ungebetenen Gast aus den Augen zu lassen.
„Du bist nun schon zum zweiten Mal unerlaubt in meinem Schloss“, krächzte sie weiter. „Und bevor du mich das erste Mal besucht hast, wurde mir ein Ring gestohlen, Eleonora“, die Alte legte ihren Kopf schief und grinste unheimlich. Meine Güte, Elisabeth Greenwood hielt Eleonora für den Einbrecher. Sie dachte, sie hätte den Ring gestohlen.
„Misses Greenwood, ich habe mit dem Einbruch in jener Nacht nichts zu tun“, wimmerte Eleonora, immer noch das Messer fest umgriffen.
Misses Greenwood nickte und schwieg. „Du bist zu einem Raub nicht fähig“, raunte sie. „Du hast Angst. Angst wie eine kleine Maus.“
Jetzt war es Eleonora, die stumm nickte.
„Du willst nur die Puppen kennen lernen, damit du dein Buch schreiben kannst“, fuhr die Alte fort.
„Genauso ist es“, antwortete Eleonora und ließ endlich das Messer los. Ihr Herz raste wie verrückt.
„Mirabell ist verletzt. Der Einbrecher hat sie zerstört. Sie ist im Wohnsalon. Komm mit, Kindchen.“
Misses Greenwood drehte sich langsam auf ihren dünnen Beinen um und verließ das Schlafzimmer. Eleonora atmete auf. Diese Frau kann einem wirklich Angst machen, dachte sie verstört und folgte ihr in den Wohnsalon.
Misses Greenwood stand vor dem einzigen Schrank im Wohnsalon, er war groß, schwer und aus massivem Holz gefertigt. Sie öffnete mit ihren dürren, knochigen Fingern die quietschende Schranktür und holte eine Schatulle heraus.
„Hier ist sie“, nun lächelte Misses Greenwood und überreichte Eleonora feierlich die rote Schatulle, die über und über mit Muscheln beklebt war. Eleonora hob den Deckel an, dessen Schatten sich langsam von dem Gesicht der Puppe abhob. Eleonora schrie entsetzt auf, wollte die Schatulle am liebsten sofort wieder verschließen. „Das ist Mirabell, meine andere Enkelin“, nickte Elisabeth Greenwood.
Die Porzellanpuppe war das Ebenbild des absoluten Grauens. Schneeweiße, eiskalte Haut. Blonde Engelshaare, makellos frisiert und ein weißes, glänzendes Kleid. Oben auf dem Kopf saß eine rote Schleife, fein drapiert auf dem blonden Haar.
„Sie war einst wunderschön und perfekt, doch jetzt ist sie zerstört von der Hand des Einbrechers, von der Hand, der sie töten wollte und mir meinen Ring gestohlen hat. Du erkennst ganz klar das zerbrochene Gesicht, welches zwischen den Augen vollständig aufgerissen ist. Sie hat bei dem Unfall ihr linkes Auge verloren. Ich wollte ihr dort eine Murmel einsetzen, habe aber noch nicht die passende gefunden“, seufzte die alte Frau.
„Sie sieht tatsächlich genauso aus wie Isabell“, stellte Eleonora fest. „Wo haben sie die beiden gekauft?“
„Nun, Kindchen, man kann die Mädchen nicht kaufen, man kann sie lediglich adoptieren. Mirabell habe ich schon seit ich selbst noch jung war. Ich habe sie in einem Antiquitätenladen hier in London gekauft. Der Händler meinte, sie sei ein absolutes Einzelstück aus Japan, ein echtes Unikat. Und vor einigen Jahren geschah das Unfassbare: Hier in London, am Rande des Gloomy Forest gab es einen Zirkus. Den Zirkus Magic. Ich ging jeden Sonntag in eine Vorstellung. Es gab Clowns, Artisten, wilde Tiere und eine Puppenspielerin. Ich habe die Shows geliebt. Doch dann ist der Zirkus pleite gegangen… Und die Besitzer veranstalten einen Flohmarkt. Ich habe viele Dinge dort gekauft, weil mich die Shows so begeistert hatten und mich so verzaubert hatten, ich wollte nie wieder ohne diesen Zirkus leben. Unter anderem habe ich auch eine Puppe gekauft. Isabell. Und sie sieht ganz genauso aus wie ihre Schwester, Mirabell. Und ich habe sie beide gefunden, hier in London. Oder besser gesagt, sie haben mich gefunden. Was für ein Zufall das war!“ Misses Greenwood hatte sich mittlerweile auf das Sofa gesetzt, sie saß da, mit einem Lächeln, versunken in ihre Geschichte. „Wie konnten Sie die beiden Puppen auseinanderhalten?“
„Nun, ich habe Isabell eine blaue Haarschleife ins Haar gebunden. Und Mirabell eine Rote. Nur so konnte ich sie all die Jahre unterscheiden. Doch nun ist es ein Kinderspiel, die beiden zu identifizieren. Mirabell hat ein Glasauge und ein gespaltenes Gesicht. Und Blut am Rücken.“
Blut am Rücken? Eleonora hob das kaputte Mädchen aus der Schatulle und drehte sie vorsichtig um. Das weiße Kleidchen war am Rücken dunkelrot.
Eleonora verzog angewidert das Gesicht und sah hilfesuchend zu Misses Greenwood. Sie nickte traurig. „Ja, mein Schätzchen hat sehr viel Blut verloren, als der Einbrecher hier war und ihr Gott weiß was antun wollte.“
Ein paar quälende Minuten der Stille verstrichen. Eleonora spürte den Ekel in sich aufsteigen, ihr Magen schien sich umzudrehen. Das hier war sicher alles nur Einbildung oder ein böser Albtraum. Gleich würde sie aufwachen und dann würde alles wieder gut werden.
„Die Wahrheit ist… Sie braucht eine neue Mami. Ich habe sieben Mädchen in meinem Schloss um die ich mich kümmern muss. Da bleibt keine Zeit mehr für ein Mädchen mit Behinderungen. Sie sieht kaum noch, kann ihren Kopf nicht bewegen. Ich habe sie in diese Schatulle gelegt, damit ihr nichts passiert. Eleonora, ich möchte, dass du sie an dich nimmst und dich um sie kümmerst“, Misses Greenwood lächelte.
Die Puppe mit nach Hause nehmen? Niemals, dachte Eleonora entschlossen. Unter keinen Umständen.
„Das ist wirklich sehr nett, Misses Greenwood, doch ich habe keine Zeit für … ein Baby“, stotterte Eleonora und versuchte ein Lächeln.
„Ich bestehe darauf, Eleonora! Es hat sich selten jemand so für die Mädchen interessiert wie du. Du wärst eine gute Mami für meine Mirabell. Nimm sie mit und kümmere dich um sie!“, Elisabeth Greenwood war laut geworden, ihr Ton streng. Sie war fest davon überzeugt, ihr die Puppe zu schenken. Eleonora nickte brav und zauberte ein künstliches Lächeln. Sie würde die Puppe einfach mitnehmen und zu Hause in den Keller räumen. Auf keinen Fall würde sie diese grauenvolle, kaputte Puppe mit Blut am Rücken und einer Murmel in der leeren Augenhöhle bei sich zu Hause aufs Sofa setzen und mit ihr Tee trinken.
Elisabeth Greenwood machte die Schatulle behutsam zu und überreichte sie feierlich der entsetzten Eleonora, die sich daraufhin verabschiedete und sich schon überlegte, die Puppe doch lieber gleich weg zu werfen.
Als Eleonora die Wohnungstüre hinter sich schloss, blieb sie erst einmal einen Moment im Hof stehen. Sie atmete tief durch, ihre Beine waren noch ein wenig zittrig. „Verrückte alte Hexe!“, murmelte sie. Ihr Blick wanderte durch den Red Side Hof, dessen Boden schon ganz schlammig war vom vielen Regen. Die große Uhr im Turm gongte laut und schallte durch die gesamten Mauern des Schlosses. Da wanderten Eleonoras Augen am Turm entlang. Dort gab es ein winziges Fenster. Eleonora musste genau hinsehen, sie erschrak, als sie dort einen Menschen entdeckte. Einen Mann. Sein Blick wanderte wachsam über den Hof, erspähte Eleonora und wich sofort vom Fenster zurück. Eleonora zuckte, überlegte nicht lang, nahm die Beine in die Hand und rannte augenblicklich auf den Turm zu. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. War es ein gefangener Sohn? Oder stand da oben der Polizist Frank Harris, der doch noch ein paar Dinge überprüfte? Oder war es gar der Einbrecher, der nur auf seine nächste Chance von hier oben aus lauerte? Eleonora rannte die hölzerne Treppe nach oben, ganz nach oben. Irgendwo hier musste der Mann doch sein. Der Glockenschlag wurde lauter, Eleonoras Puls erhöhte sich, die Treppenstufen knarzten unter ihren Füßen, die sich schnell und zielsicher nach oben bewegten. Vorbei an dem Fenster, sie lief so schnell sie konnte. Keuchend kam sie oben an, genau in dem Moment, als die Glocke ihren letzten Gong läutete. Der Schall war ungeheuer laut und drang noch