Herbstverwesung. Stefanie Randak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefanie Randak
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783962298531
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und sah entsetzt auf seine Armbanduhr.

      „Kein Problem“, antwortete Eleonora und reichte der hübschen Courtney und Richard zum Abschied die Hand.

      Die beiden verließen Arm in Arm das Golden Horse Sporthotel. Eleonora sah dem Paar wehmütig hinterher. Egal, was die beiden schon durchgemacht hatten, jetzt schienen sie wirklich glücklich zu sein. Sie wirkten so vertraut miteinander, richtig verliebt.

      Seufzend klappte Eleonora ihren Laptop auf und schrieb an ihrem Buch weiter. Sie merkte gar nicht, dass es draußen schon dunkel wurde und ihr war auch nicht bewusst, dass manche Menschen in diesem Hotel düstere Gedanken hatten, als sie an ihr im Speisesaal vorbeiliefen.

      7

      Jede einzelne Schneeflocke, die zur kalten Jahreszeit vom Himmel schwebt, ist Winter. Der Winter ist in unserer Vorstellung weiß, glitzert. Wir denken bei Winter an die besinnliche, fröhliche Weihnachtszeit. Der Winter ist Geborgenheit.

      Der Frühling ist die Zeit, in der wir die Knospen sprießen sehen und die ersten Sonnenstrahlen genießen. Der Frühling sind singende Vögel und lange Spaziergänge.

      Den Sommer verbinden wir mit dem Meer, mit Spaß, mit Ausruhen. Sand ist der Sommer. Hitze ist der Sommer.

      Doch was ist der Herbst? Die Wärme geht verloren, die Farben verblassen. Der Herbst ist düster. Regen ist der Herbst und er ist grau, kalt. Der Herbst ist, wenn es draußen schon früh dunkel wird und du lieber zu Hause bleiben solltest, wo du sicher bist. Herbst ist, wenn du Angst hast, alleine raus zu gehen und dich fürchtest, weil du nicht weißt, wem du im dichten Herbstnebel über den Weg laufen könntest.

      Eleonora saß an diesem Abend alleine in ihrer Wohnung und ärgerte sich, dass niemand da war, dem sie die ersten Seiten ihres Buches vorlesen konnte. Sie war stolz auf das Geschriebene und wollte es unbedingt mit jemandem teilen. Bis in die späten Abendstunden hatte sie noch daran gearbeitet. Eleonora hatte in den Zeilen viel verarbeitet. Und nun war niemand für sie da, dem sie vorlesen konnte. Sie war allein. Sie wollte ihrem Lorenzo vorlesen, wollte dass er stolz auf sie war. Doch der saß irgendwo mit einem Makler namens Steve Brown und wollte Eleonora nicht dabeihaben.

      Sie saß auf dem Sofa, eingewickelt in eine Decke und sah deprimiert aus dem Fenster, an das der Ast eines Baumes störend an das dünne Glas kratzte. Der Wind heulte um die Häuser Londons und die Aussicht war fad, dunkel und trüb.

      Doch dann fiel Eleonora ein, dass sie nicht ganz alleine in der Wohnung war. Da war noch jemand, der in eine Schatulle gesperrt war und unter dem Bett lag.

      Eleonora schluckte. Sie schälte sich aus ihrer Decke und tappte barfuß ins Schlafzimmer. Sie holte tief Luft, es kostete sie aus ihr nicht ganz bewussten Gründen eine Menge Überwindung, die Schatulle zu öffnen.

      Mit zittrigen Händen wickelte sie das Paketband ab und hob den Deckel hoch. Ihr Blick fiel auf den Rücken der Puppe, sie sah den roten Fleck, die blonden Haare und den Verschluss des weißen Kleidchens. Eleonora konnte sich nicht erinnern, dass sie Mirabell mit dem Gesicht nach unten in die Schatulle gelegt hatte. Womöglich war sie umgedreht worden, als Eleonora das Paketband rundherum um Mirabells Schatulle gewickelt hatte. „Komm her, Püppchen“, Eleonora hob das Mädchen hoch. Die Puppe starrte sie mit einem hohlen, dunklen Augenloch an. Eleonora schauderte, verzog das Gesicht. Sie holte schnell eine Murmel aus ihrer Dekoration im Flur und drückte sie gewaltsam in das Loch hinein. Doch die wollte dort nicht halten. Der Riss in ihrem Gesicht war einfach zu groß und weitete das Augenloch aus.

      „So funktioniert das nicht“, meinte Eleonora. „Wir werden dich jetzt hübsch machen, Mirabell. Und dann musst du mein Zuhörer sein. Ich möchte jemandem den Anfang des Buches vorlesen.“ Eigentlich hatte sie vorgehabt, die Puppe weg zu werfen. Doch nun wollte sie einen Zuhörer. Und vielleicht konnte man Mirabell ja noch ein wenig hübsch machen. Ganz vorsichtig öffnete Eleonora den Reisverschluss des Kleides. Sie hatte Angst, etwas kaputt zu machen. Eleonora konnte es nicht leugnen: Sie hatte Respekt vor dieser Puppe. Vermutlich waren es die unheimlichen Geschichten, die Misses Greenwood ihr über die Mädchen erzählt hatte, vielleicht waren es auch die Umstände, wie sie Mirabell kennen gelernt hatte oder einfach nur das verstörende, kaputte Gesicht.

      „Als erstes waschen wir mal dein Kleid“, Eleonora legte es im Badezimmer in ein Waschbecken mit Seifenwasser. Dort sollte es erst einmal von seinem roten Fleck befreit werden. Dann kramte sie eine Heißklebepistole aus der Schublade im Wohnzimmer. Sie begann, Mirabells entstelltes Gesicht zu reparieren und klebte die Glasmurmel gleich fest in die leere Augenhöhle des Mädchens. Als das Kleid wieder sauber war und in reinem Weiß erstrahlte, konnte Mirabell wieder hineinschlüpfen. Dann bürstete Eleonora ihr das schneeblonde Haar und putzte mit einem Staubtuch über ihr kleines Porzellangesicht. Zu guter Letzt bekam sie ihr Erkennungsmerkmal, die rote Schleife, zurück ins Haar gebunden.

      „Du siehst schon viel besser aus“, lächelte Eleonora und setzte die Kleine schließlich zu ihr aufs Sofa, klappte den Laptop auf und las ihr die selbstgeschriebenen Zeilen laut vor.

      Eleonora war schon tief in ihren Träumen der Nacht gefangen, als sie plötzlich aufschreckte. Sie atmete schwer, der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Hatte sie einen Albtraum gehabt? Irgendetwas hatte sie geweckt. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Drei Uhr nachts. Lorenzo lag neben ihr und schnarchte leise vor sich hin. Wann war er nach Hause gekommen? Eleonora war froh, dass er da war. Sie hörte, wie der Wind draußen an die Jalousien hämmerte. War sie deshalb wach geworden? Ein unbehagliches Gefühl schlich durch ihren Körper. Etwas knarzte hier, raschelte da. Sie war nicht sicher, ob die Geräusche von draußen kamen oder hier in der Wohnung waren. „Lorenzo“, flüsterte Eleonora und klopfte ihrem Verlobten auf die Schulter. Sie fühlte sich gar nicht wohl. „Lorenzo, wach auf!“

      „Was ist denn los?“, murmelte er und rieb sich die Augen. „Lorenzo, ich habe ein Geräusch gehört!“

      „Das war bestimmt der Wind“, er gähnte und setzte sich auf. „Nein, ich glaube es war hier in der Wohnung. Kannst du bitte aufstehen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist?“, wimmerte Eleonora weiter.

      „Na gut“, seufzte Lorenzo und erhob sich widerwillig aus seinem warmen Bett. Eleonora blieb im Schlafzimmer sitzen, still. Ganz still, sie hielt die Luft an. Sie lauschte der Geräuschkulisse, die von draußen in ihre Wohnung drang und versuchte, Lorenzos Schritte zu verfolgen. Der kam verschlafen zurück ins Schlafzimmer getorkelt und grummelte: „Es ist alles gut, principessa. In der Wohnung sind nur wir beide. Wir beide, und auf unserem Sofa liegt eine Puppe“, Lorenzo zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Gehört sie dir?“

      „Ja, die gehört mir“, antwortet Eleonora erleichtert darüber, dass niemand sonst in der Wohnung war.

      „Warum kaufst du dir eine Puppe? Und dann auch noch eine Einäugige?“, er schüttelte den Kopf und kroch zurück unter seine Decke.

      „Misses Greenwood hat sie mir geschenkt. Und sie hat zwei Augen. Ein Normales und eine Murmel als Ersatz“, korrigierte Eleonora.

      „Nein, Eleonora, sie hat nur eins“, gähnte Lorenzo und sank zurück in seinen Schlaf, den er so dringend brauchte.

      In dieser Nacht saß Eleonora anschließend in ihrem Wohnzimmer auf dem Fußboden und versuchte verzweifelt, die Glasmurmel zurück in Mirabells Augenhöhle zu quetschen. Sie war aus unerklärlichen Gründen tatsächlich wieder herausgekullert und hatte unter dem Sofa gelegen. Während Eleonora mit Mirabell auf dem Schoß am Boden saß, das Gesicht der Puppe in den Händen, marschierte jemand nicht weit entfernt durch die finsteren, edlen Flure des Golden Horse Sporthotels. Der Makler Steve Brown leuchtete sich dort seinen Weg mit einer kleinen Kerze. Im Hotel herrschte absolute Stille, man konnte nur die Schritte von Steve Brown hören, der zielstrebig umhermarschierte und mit seinen edlen Lederschuhen ein furchteinflößendes Echo hinterließ. Und wenn man genau hinsah, dann erkannte man den Revolver, den er in seiner Anzugtasche trug.

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