Ich klammere mich an Lisa wie ein kleines Baby.
Stille.
Plötzlich lässt Lisa mich los und schaut mich mit großen Augen an.
„Ich habe eine Idee: Du nimmst dir eine Auszeit. Geh drei Wochen weg, flieg in die Sonne, schalt mal ab. Keinen Menschen hören und sehen.“
„Meinst du?“
Ich strecke mich, als wäre ich in einem Schraubstock gewesen. Schnaube mir noch einmal die Nase und sammle alle Papiertücher auf. Dann blicke ich in ihr Gesicht. Typisch Lisa, sie denkt immer praktisch. Ich schwanke, überlege. Aber warum eigentlich nicht?
„Gute Idee. Aber wie soll ich das finanzieren? Ich habe ja kein Geld mehr. Und Peter hat bestimmt schon alle Kreditkarten gesperrt.“
„Hast du nicht eure gemeinsame Visa-Karte, die du immer bei deinen Internetbestellungen benutzt?“
„Ja, habe ich. Hoffentlich hat er die noch nicht gesperrt.“
„Dann lass uns schnell die Reise buchen.“
Wir gehen über die Terrasse zum Patienteneingang meiner Praxis. Dort fahre ich sofort den Computer hoch.
„An was hast du denn gedacht?“, frage ich sie.
„Ich war mal im Los Almendros Golf- und SPA-Hotel in Marbella. Dort hat es mir sehr gut gefallen“, sagt sie und holt ihr Handy raus. „Okay Google, suche Hotel Los Almendros in Marbella.“
Die Webseite des Hotels öffnet sich.
Lisa diktiert mir den Link.
Nach einigem Suchen finde ich die notwendigen Angaben. Ich buche für kommende Woche Mittwoch ein Zimmer mit Halbpension und einem Intensiv-Golftraining. Aus der Schreibtischschublade hole ich die Kreditkarte.
„So, das kann jetzt Peter bezahlen“, sage ich grimmig.
Ich tippe nacheinander Kartennummern in den Computer. Banges Warten. Endlich taucht die Bestätigung der Buchung auf dem Bildschirm auf.
„Und jetzt musst du sofort den Flug buchen“, stupst mich Lisa an, „dann hast du alles erledigt.“
Und ich habe Glück, denn einen passenden Flug für Mittwoch finde ich auch. Wir umarmen uns als hätten wir eine Schlacht gewonnen.
„Kannst du mich am Mittwoch zum Flughafen bringen?“
„Aber klar doch.“
„Danke! Du bist ein Schatz!“
Lisa schaut mir prüfend ins Gesicht: „Kann ich dich jetzt allein lassen?“
„Ja, kein Problem. Mir geht es schon deutlich besser“, beruhige ich sie. „Ich muss eine Menge erledigen. Es sind nur noch vier Tage, die ich zur Vorbereitung habe.“
In den darauffolgenden Tagen habe ich alle Hände voll zu tun. Das ist gut, denn mir bleibt dadurch kaum Zeit über Peter und mich nachzudenken. Meinen Kummer verdränge ich erfolgreich.
Eine positive Verdrängung, wie ich gelernt habe. Denn wenn ich mich jetzt meinen seelischen Schmerzen hingeben würde, hätte ich überhaupt keine Energie und Kraft, um mich aus meiner Misere zu befreien. Ich weiß das so genau, weil ich drei Jahre zuvor von einer Freundin sehr enttäuscht worden bin. Monatelang blockierte ich mich mit der Frage, warum sie mich so behandelt hat.
Dieses Mal will ich nicht depressiv in Selbstmitleid versinken. Mit dem Spielen will ich erst recht nicht anfangen. Die Idee, nach Marbella zu fliegen und mir eine Auszeit zu nehmen, kommt mir immer logischer und passender vor.
Sofort mache ich mich daran, eine To-Do-Liste zu erstellen. So viele Dinge muss ich noch erledigen, bevor ich fliege.
Ganz oben auf meiner Liste steht: Peter anrufen.
Sonntagnachmittag war geplant, dass ich die Abrechnung für seine Praxis mache. Aber ich denke im Traum nicht daran. Nein, das werde ich ums Verrecken nicht tun. Ich suche seine Telefonnummer in meinem Handy. Jedoch drücke ich nicht auf den grünen Hörer. Zu viele Gedanken gehen mir durch den Kopf.
Ich brauche noch Zeit.
Als zweiten Anruf habe ich meine Kollegin Katja eingetragen. Wir sind seit zehn Jahren in einer Inversionsgruppe, und wir haben dieselbe moderate integrative Einstellung zur Psychotherapie. Bei der KV haben wir uns gegenseitig als Vertretung bei Notfällen eingetragen. Und jetzt habe ich einen Notfall. Sie muss mir helfen und sich um einige meiner Patienten kümmern.
„Hallo Katja, ich bin‘s, Julia. Hast du kurz Zeit?“
„Ja, klar! Was ist los, dass du mich an einem Samstagnachmittag anrufst.“
„Ich muss überraschend für drei Wochen die Praxis schließen. Kannst du einige Patienten von mir übernehmen?“
„Ist was passiert?“
„Nicht direkt, aber ich brauche dringend eine Auszeit. Näheres erzähle ich dir später.“
„Wann brauchst du mich denn?“
„Ab diesem Mittwoch.“
Ich höre ein lautes Schnaufen. „Julia, das ist aber sehr knapp.“
„Ja, ich weiß. Sorry, wirklich. Kannst du heute Abend zu mir zum Essen kommen? Dann können wir die Patienten durchsprechen, die du vielleicht übernimmst.“
„Okay, ich komme gegen 19: 00 Uhr.“
„Danke, bis nachher.“
Geschafft. Ich lege das Handy beiseite und atme tief durch. Konzentriert arbeite ich weiter meine Liste ab. Dem WDR schreibe ich eine E-Mail. Ich werde erst im Oktober mit der neuen Staffel beginnen. Bis dahin habe ich genügend Stoff für meine Sendung gesammelt.
Ich wende mich nun meinen Patienten zu. Es ist nicht so einfach. Bei denen, die sehr lange bei mir sind, kann ich ein Schlussgespräch planen und die Therapie beenden. Die, die ich gerade aufgenommen habe, kann ich relativ einfach an Katja weitergeben. Schwieriger ist es bei den Patienten, mit denen ich gerade in einem intensiven therapeutischen Prozess bin.
Besonders leid tut mir, dass ich Eva vertrösten muss. Sie hat mir über WhatsApp geschrieben, dass sie die Klausur bestanden hat. Doch jetzt braucht sie einen Termin, weil sie sich mit ihrem Freund zerstritten hat. Auch eine Mutter mit ihrem siebenjährigen Sohn bittet dringend um einen schnellen Gesprächstermin. Die Schule meint, ihr Sohn sei Autist. Die Schulkinder aus seiner Klasse mobben ihn.
Ich blättere in meinem Kalender die Seiten hin und zurück. Nervös beiße ich mir auf die Lippe.
Ich komme mir so niederträchtig vor. Nur weil es mir nicht gutgeht, lasse ich meine Patienten im Stich. Ich fühle mich für ihr Wohl verantwortlich und überlege kurz, ob ich meine Reise nach Marbella nicht besser canceln soll. Dieses blöde Verantwortungsgefühl.
Ich lege den Kuli beiseite und stütze den Kopf in beide Hände. Mir ist klar, dass ich durch meine Erziehung geprägt wurde, weil ich schon früh die Verantwortung für meine Geschwister übernehmen musste. Jetzt sitze ich als Erwachsene da und bekomme ein schlechtes Gewissen, sobald ich zu jemandem nein sagen muss. Besonders schwer fällt es mir, einem Patienten abzusagen, wenn ich meine eigenen Interessen realisieren möchte.
Mit einem tiefen Seufzer stehe ich auf, hole die Patientenakten aus dem Schrank und staple sie auf meinen Schreibtisch. Die Unterlagen für mein Gespräch mit Katja lege ich auf das Regal. Die Patienten, mit denen ich eine Sitzung machen muss, bestelle ich per WhatsApp für Montag und Dienstag in die Praxis, und die restlichen Personen informiere ich per E-Mail.
Obwohl ich versucht habe, an nichts anderes zu denken, quält mich mein schlechtes Gewissen. Ich muss Peter sagen, dass ich seine Abrechnung nicht am Sonntagnachmittag machen werde. Einen kurzen Moment zögere ich und überlege, ob ich sie nicht vielleicht Sonntag früh machen könnte. Mit der flachen