Draußen im Hof krachten die ersten Knallkörper, am Himmel explodierten Raketen in allen Regenbogenfarben. Die Schweiz feierte ihren ersten August.
Früh am nächsten Morgen machte Mike auf dem Weg ins Büro zuerst halt am Kiosk nebenan. Zu einem lauwarmen, wässrigen Industriekaffee in einem wackligen Plastikbecher durchforstete er an einem Stehtischchen die aktuellen Tageszeitungen und suchte nach Berichten über die Ereignisse von gestern. Keine der Zeitungen hatte über einen ertrunkenen Mann in der Aare geschrieben. Gestern war zwar ein Feiertag gewesen, trotzdem hätten die Zeitungen heute darüber berichten können. Der Tod eines Menschen war ja immer ein beliebtes Thema für Schlagzeilen. Dass keine Zeitung darüber schrieb, war zwar merkwürdig, bedeutete aber auch, dass er weiterhin exklusiv berichten konnte.
»So nicht, Honegger!« Hans Werdenbergers Wut hatte über Nacht nicht abgenommen. »Haben Sie von mir in Sachen Pünktlichkeit und Genauigkeit im Leben noch gar nichts gelernt? Wie oft muss ich mich denn wiederholen?«
Mike kannte Werdenberger gut genug, um zu wissen, dass er die Rede, die folgte, ohne ein Wort zu erwidern über sich ergehen lassen musste. Es schien ihm trotzdem eine Ewigkeit, bevor Werdenberger seufzte und endlich fragte: »Also, warum sind Sie gestern nicht aufgetaucht?«
Mike erklärte ihm detailliert, was vorgefallen war und weshalb er sich nicht gemeldet hatte. Dann legte er ihm stolz den Artikel über den Fund der Leiche in der Aare auf sein Pult. Werdenberger hörte mit grimmiger Miene zu und ignorierte den Artikel. Als Mike fertig war, sagte er: »Sie sind also nicht aufgetaucht, weil Sie glaubten, ein ertrunkener Mann sei für unsere Zeitung ein passendes und interessantes Thema? Sind wir denn nicht mehr eine angesehene Zeitung mit langer Vergangenheit, die für sich in Anspruch nimmt, hochkarätigen Journalismus zu bieten? Sind wir neuerdings zu einem Boulevardblatt verkommen, das mit persönlichen Katastrophen auf der Titelseite ihre Leser verführt? Und glauben Sie wirklich, das rechtfertige, einen Termin mit mir ohne Abmeldung platzen zu lassen?«
»Ich denke, er wurde ermordet!«, versuchte Mike sich zu rechtfertigen.
Werdenberger begann mit den Händen zu gestikulieren. »Sehen Sie, das ist ja noch schlimmer. Jetzt spekulieren Sie schon über die Todesursache. Was ist denn das für ein Niveau? Es ist sicher nicht das Niveau, das zu unserer traditionsreichen Tageszeitung passt! Dazu kommt noch, dass Sie den Auftrag, den ich Ihnen gegeben habe, nämlich eine Artikelserie zu schreiben, immer noch nicht ausgeführt haben. An fehlender Zeit scheint es ja nicht zu liegen, wenn Sie in der Aare baden gehen können und Wegwerf-Gesellschafts-Artikel wie diesen schreiben können!«
Er stand hinter seinem Pult auf, ging zum Fenster und blickte lange hinaus.
»Nein, Honegger. Wir wissen beide seit einiger Zeit, dass wir nicht zusammenpassen. Suchen Sie sich eine Stelle bei einer Gratiszeitung. Dort können Sie in fünf Zeilen etwas über Mordfälle spekulieren, das jeder Pendler im Halbschlaf am Morgen im Zug konsumieren kann und nicht mehr als einen Grundwortschatz von 100 Wörtern voraussetzt. Aber nicht hier und nicht bei mir. Die Fortsetzung unseres Arbeitsverhältnisses ist aus meiner Sicht nicht mehr zumutbar. Es wäre also besser, wenn Sie Ihr Pult räumten. Sie haben eine Stunde Zeit, dann will ich Sie nicht mehr sehen. Das wäre alles. Sie können gehen.«
Seine Arbeitskollegen waren schockiert, als Mike ihnen kurz mitteilte, dass Werdenberger ihn soeben gefeuert hatte. Da dieser aber mit gekreuzten Armen unter dem Türrahmen seines Büros stand und wie ein Feldherr auf sein Schlachtfeld in das Großraumbüro starrte, getraute sich niemand, was zu sagen. Einzig Verena nahm ihr Headset ab und flüsterte ihm mit einem Lächeln voller Mitleid zu: »Ich rufe dich an.«
Mike ging zu Fuß zum Bahnhof, wo er sich auf dem Vorplatz an einen Restauranttisch setzte und einen Kaffee bestellte. Er konnte nicht fassen, was soeben geschehen war. Den Generationenunterschied zwischen ihm und Werdenberger hatte er schon seit Langem gespürt, wie seine Kollegen und Kolleginnen auch, und sie hatten auch nie richtig harmoniert. Dass er ihn jedoch feuern würde, hätte er nie gedacht. War er wirklich zu weit gegangen? Auch nach langem Überlegen beurteilte er seinen gestrigen Entscheid weiterhin als richtig. Als Journalist musste er jede Gelegenheit packen, um über Außergewöhnliches zu berichten, wann und wo immer sie sich auch bot, Sitzungstermine hin oder her. Er bestellte einen zweiten Kaffee. Den Toten in der Aare würde er nicht loslassen, dazu war er jetzt erst recht entschlossen. Er würde dem Fall nachgehen, herausfinden, wer der Mann war und einen erstklassigen Artikel darüber schreiben. Damit würde er eine neue Stelle suchen.
Die Polizeiwache Bern steht nicht weit vom Bundeshaus entfernt am Waisenhausplatz, in einem dreistöckigen, palaisähnlichen Gebäude, das bis fast Mitte des letzten Jahrhunderts als Knabenwaisenhaus diente.
»Wie kann ich Ihnen helfen?« Ein korpulenter Mann mit kurz geschorenen Haaren inspizierte Mike mit seinen kleinen schwarzen Augen durch das Panzerglas des Empfangsschalters. Sein abschätziger Blick verriet ihm, dass er von Mikes Jeans und T-Shirt nicht viel hielt.
»Ich bin Journalist und arbeite bei den ›Berner Nachrichten‹. Ich recherchiere den Todesfall von gestern im Marzili. Wem kann ich dazu einige Fragen stellen?«
»Wer sagt denn, dass es gestern einen Todesfall gegeben hat?«
»Ich habe die Leiche selbst gesehen und war dabei, als zwei Polizisten und eine Frau vom kriminaltechnischen Dienst sie untersuchten.«
Der Beamte zögerte einen Moment, schaute ihn misstrauisch an und fragte: »Was genau wollen Sie denn wissen?«
»Ich möchte mich über den Stand der Ermittlungen informieren. Meine Leser wollen wissen, ob der Mann inzwischen identifiziert wurde.«
Mit ›meine Leser‹ bluffte Mike erst recht. Nachdem er heute Morgen gefeuert worden war, hatte er keine Leser mehr. Er hoffte aber, seinem Anliegen damit mehr Gewicht zu verleihen.
»Haben Sie auch schon etwas von Datenschutz gehört? Wenigstens das gibt es bei uns in der Schweiz noch.«
Der Mann wandte seinen Blick von Mike ab und wischte sich demonstrativ einige Krümel seines Frühstücks von seinem grauen Kittel, der einige Nummern zu klein wirkte.
»Hören Sie bitte zu. Ich bin Journalist und weiß, welche Informationen Sie herausgeben dürfen, ohne den Datenschutz zu verletzen. Suchen Sie jemanden, der mir Antworten liefern kann, oder nicht?«
Der Beamte runzelte seine Stirn und nahm provokativ langsam den Telefonhörer in die Hand. Er sprach leise, sodass Mike dem Gespräch durch die Glaswand nicht folgen konnte.
»Also dann. Es kommt gleich jemand. Dort ist der Warteraum.«
Mike musste nicht lange warten, bis ein uniformierter Polizist in den Warteraum trat.
»Sind Sie der Journalist, der nach einem angeblichen Unfall in der Aare fragt?«
Die höfliche Stimme wirkte künstlich aufgesetzt.
»Ja.«
Bevor Mike sich vorstellen konnte, hielt ihm der Polizist die Hand entgegen, als ob er an einer Kreuzung den Verkehr anhalten wollte.
»Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Gestern ist bei uns keine Meldung über einen angeblichen Badeunfall eingegangen. Es muss sich um einen Irrtum Ihrerseits handeln.«
Mike sah ihn erstaunt an.
»Nein, da muss es sich um einen Irrtum Ihrerseits handeln, denn ich war dabei, als die Leiche aus der Aare gezogen wurde und als Ihre Kollegen sie untersuchten. Und es war übrigens kein angeblicher Badeunfall.«
»Wie gesagt, es tut mir leid, Herr Honegger, uns ist nichts bekannt. Ich habe alle Meldungen von gestern selbst überprüft. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Er schaute Mike direkt in die Augen und setzte erneut sein künstliches Lächeln auf.
»Was Sie sagen, stimmt nicht und Sie wissen es! Einer Ihrer Kollegen hat meine Personalien aufgenommen.«
»Ich