Sie verstaute das Diktiergerät in ihrer Hosentasche und zog die Handschuhe von ihren Händen.
»Kunz, kümmern Sie und Ihre Männer sich um die Spurensicherung. Ich will Fußabdrücke, Zigarettenstummel, Kaugummis, einfach alles, was für unsere Ermittlungen relevant ist. Dokumentieren Sie die Stelle und fotografieren Sie die Leiche und die Umgebung. Lassen Sie sie zur Obduktion ins Institut für Rechtsmedizin der Uni bringen. Befragen Sie die Leute, die hier herumstehen, und nehmen Sie ihre Personalien auf. Bis 18 Uhr will ich Ihren Bericht vorliegen haben.«
Sie drehte sich auf der Stelle um und ging davon.
Die meisten Gaffer wollten nicht freiwillig von der Polizei vernommen werden und versuchten, sich unauffällig zu entfernen. Die Polizisten riefen sie aber zurück und begannen mit der Befragung.
Als der Bestattungswagen mit der Leiche langsam davonrollte, blickte Mike auf seine Uhr und realisierte, dass er heute Werdenberger im Büro nicht mehr treffen würde. Er wusste, wie wütend dieser reagieren würde. Sein Entscheid, an der Aare zu bleiben, würde ihn teuer zu stehen kommen. Wenn er morgen Werdenberger noch beichtete, dass seine Artikelreihe noch lange nicht fertig war, würde er das Fass zum Überlaufen bringen. Die einzige Chance, sich zu retten, lag darin, ihm morgen einen erstklassigen Artikel über den Fund in der Aare vorzulegen und zu hoffen, er würde ihm wegen des verpassten Termins vergeben.
Kapitel 2
Mike blickte während der kurzen Fahrt mit der historischen Drahtseilbahn zur Altstadt von Bern aus dem Fenster herauf zum Bundeshaus und hinab zum Freibad an der Aare. In der Hand drehte er nachdenklich sein ausgeschaltetes Handy. Nachdem er die Sitzung mit Hans Werdenberger hatte platzen lassen, wusste er, dass auf seiner Combox mindestens eine Meldung auf ihn wartete. Er konnte sich deren Inhalt vorstellen.
Wenige Minuten später stieg er aus der Bahn auf die Bundesterrasse, setzte sich im Schatten auf eine alte Holzbank und hielt das Handy noch eine Weile in der Hand, bevor er es endlich einschaltete.
»Hier ist Werdenberger. Wo zum Teufel stecken Sie, Honegger? Sie hatten um halb fünf einen Termin bei mir, jetzt ist es schon Viertel vor fünf. Ich kann mir keinen guten Grund vorstellen, dass Sie nicht hier vor mir stehen, außer Sie liegen im Koma im Spital! Morgen um acht in meinem Büro.«
Auf ihn wartete eine weitere Meldung. Er erkannte die kratzige Raucherstimme seiner Arbeitskollegin. »Mike, hier ist Verena. Wo steckst du denn nur? Der Werdenberger dreht fast durch vor Wut. Deine Artikel seien immer noch nicht fertig und du seist nicht in seinem Büro, flucht er immer wieder. Mit ihm ist jetzt wirklich nicht zu spaßen. Pass auf, was du tust! Tschüss.«
Mike wählte die Nummer des Büros. Es nahm niemand ab. Der Telefonbeantworter nannte die Öffnungszeiten der Redaktion. Es mussten inzwischen alle nach Hause gefahren sein.
Werdenberger referierte bereits bei Verspätungen von fünf Minuten gerne und lange über die Wichtigkeit von Pünktlichkeit und Genauigkeit im Berufs- wie auch im Privatleben. Mike wusste, dass ihm eine geplatzte Sitzung, ohne vorherige Abmeldung, nicht nur eine besonders lange Rede, sondern weiteren Ärger einbringen würde. Er hoffte weiterhin, ein Exklusivbericht über den Fund einer Leiche beim Marzili würde als Erklärung für sein Fehlverhalten genügen. Mike entschloss, er hätte selbständig und unternehmerisch gehandelt. Ganz im Sinne des Zeitungsverlags. Wie es Werdenberger immer predigte, aber doch nicht zuließ. Er musste morgen pünktlich um acht Uhr in seinem Büro erscheinen, sich gut verkaufen und den Artikel über den ertrunkenen Mann – oder vielleicht ermordeten Mann? – vorlegen. Das musste genügen, um den alten Werdenberger zu besänftigen, und den geplatzten Termin wieder gutzumachen. Er machte sich aber nichts vor. Bis dahin musste er einiges recherchieren und hart daran arbeiten, einen handfesten, druckreifen Artikel zu schreiben.
In seiner Wohnung im dritten Stock des grauen Blocks im Breitenrainquartier verschlang er in der Küche den warmen Kebab, den er auf dem Heimweg in der Stadt gekauft hatte. Er musste als Nachtessen genügen, da er sich sofort an das Schreiben machen wollte. Mit einer großen Flasche Eistee aus dem Kühlschrank ging er in das mit einfachen Möbeln spärlich eingerichtete Wohnzimmer und setzte sich an seinen Arbeitstisch vor dem Fenster. Während sein Computer hochfuhr, nahm er sein Handy in die Hand und wählte Verenas Nummer.
»Hast du meine Meldung abgehört? Wo bist du denn geblieben, Mike? Ich sag dir, du, der Werdenberger ist fast ausgerastet.«
»Auch du musstest also an einem Feiertag bei Werdenberger antraben, was?«, fragte Mike.
»Ja, heute waren die meisten dran! Es ist ja jedes Jahr dasselbe. Aber los, erzähl mal, warum bist du nicht aufgetaucht?«
Er fasste zusammen, was er an der Aare erlebt hatte und fragte: »Hattest du vielleicht noch Gelegenheit im Büro die neusten Meldungen durchzulesen?«
»Ja, ich war nach der Sitzung noch eine Weile dort und habe sie überflogen.«
»Ist von der Polizei die Meldung über den Ertrunkenen eingegangen?«
»Nein, zu einem Ertrunkenen in der Aare wurde nichts gemeldet. Warum meinst du?«
»Die Polizei hätte doch eine Meldung veröffentlichen sollen. Sie sucht sicher nach den Angehörigen oder nach Zeugen. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass an dieser Sache etwas faul ist.«
»Was soll denn daran faul sein?«
»Ein angekleideter Mann, ohne Ausweis, am helllichten Tag in der Aare beim Marzili ertrunken? Da kann doch etwas nicht stimmen.«
Verena überlegte kurz, bevor sie fragte: »Wohin haben sie die Leiche geschickt?«
»Die Beamtin hat sie ins Institut für Rechtsmedizin geschickt.«
»Die Rechtsmedizin in der Länggasse kommt immer zum Zug, wenn eine Person nicht eines natürlichen Todes stirbt. Auch wenn der Mann verunfallt sein sollte, die Polizei will die genaue Todesursache herausfinden.«
»Ich sag’s ja. Etwas stimmt nicht.«
»Das ist nur eine Vermutung. Vergiss lieber deinen Termin morgen nicht, Mike. Der ist jetzt wichtiger als dein Erlebnis heute Nachmittag. Was ist übrigens mit deiner Artikelreihe los? Warum bist du damit noch nicht fertig?«
»Ich weiß es auch nicht. Ich recherchiere dafür schon lange, aber eine Artikelreihe über die Geschichte der Vororte von Bern begeistert mich einfach zu wenig. Mein Vater war zwar Historiker, aber mich interessiert Schweizer Geschichte oder Weltgeschichte. Bei den Vororten der Stadt harzt es einfach noch und ich schiebe die Arbeit ohne Inspiration so vor mich her. Komme einfach nicht vom Fleck.«
»Das habe ich auch schon erlebt. Öfters als mir lieb ist, glaube mir. Aber höre auf meinen Rat! Wenn du morgen von Werdenberger nicht zermalmt werden willst, so packe die Artikel heute Nacht noch an! Bis morgen früh kannst du einiges hinkriegen. Musst halt die ganze Nacht durcharbeiten. Es ist deine einzige Rettung.«
»Ich werde ihm einen Artikel über den Toten bringen.«
»Nein, Mike, tue das nicht! Du kennst ja den Werdenberger. Er möchte genau das sehen, was er bestellt hat. Nie mehr und nie weniger.«
»Schon okay. Danke für den Rat.«
Mike öffnete im Computer den Entwurf eines seiner Artikel, trank von der Eisteeflasche und starrte auf den Titel: ›Die Geschichte des Berner Vororts Ostermundigen‹. Er las den Entwurf mehrmals durch, in der Hoffnung, so in Gang zu kommen. Unbewusst richtete er wiederholt seinen Blick über den Bildschirm durch das Fenster zum gegenüberliegenden Block, der genau so grau war wie seiner.
Die Polizei hatte den Vorfall an der Aare erfasst. Die Beamtin hatte vom Polizisten sogar dringend einen Bericht verlangt. ›Vor sechs‹, hatte sie ihm befohlen. Wenn die Meldung beim Zeitungsverlag nicht eingegangen war, so musste sie wenigstens von der Polizei selbst veröffentlicht worden sein. Er öffnete die Website der