In der Ferne läuteten Kirchenglocken vier Uhr. Mike rieb sich die Augen und massierte seinen Nacken mit beiden Händen in der Hoffnung, die Kopfschmerzen zu lindern, die inzwischen in seinem Kopf dröhnten. Seit Mitternacht hatte er keine weiteren Informationen zu Briggs mehr gefunden, und jetzt war er müde, hungrig und unzufrieden. Wenn Briggs ganze vier Jahre am College verbracht hatte, musste Mike Exemplare der Studentenzeitung zurück bis 1981 durchforsten. Aus dem Jahr 1982 fehlten ihm nur noch wenige Ausgaben. Er streckte seine Arme aus und schüttelte die Hände. Trotz der Kopfschmerzen klickte er sich weiter durch die digitalisierten Ausgaben.
In der vierten Ausgabe, die er durchforstete, fand er zwischen Inseraten versteckt einen Artikel, der von der Wiedereröffnung eines Fraternity-Hauses auf dem Collegegelände berichtete, das von Studenten in Fronarbeit selbst renoviert worden war. Auf dem dazugehörenden Bild posierte eine Gruppe junger, stolzer Männer in Shorts vor dem weißen, neu gestrichenen Haus der Studentenverbindung, mit Pinseln und Eimern in den Händen. In der Liste der Namen der Männer unter dem Bild erschien der Name J. Briggs. Mike vergrößerte das Bild und schaute sich die jungen Gesichter an. Briggs war in der Mitte gut zu erkennen. Daneben stand ein breitschultriger, kahl rasierter Student, mit seinem Arm auf Briggs Schulter. Er musste sich im falschen Moment umgesehen haben, denn sein Gesicht war nach links gedreht und nicht zu erkennen. Der andere Arm hing locker an seiner Seite. Auf dem Unterarm sah Mike ein großes Tattoo. Er wusste sofort, dass er den Mann gefunden hatte, der mit Briggs im mexikanischen Restaurant in Bern gegessen hatte. Das Tattoo auf dem Unterarm war eindeutig. Er fand den Namen des Freunds von Briggs: Johnny Delaraza.
Begeistert suchte Mike weiter, fand jedoch keine weiteren Einträge über die beiden jungen Männer. Als Mike durch das Fenster die Umrisse des Nachbargebäudes im Licht des Morgengrauens erkennen konnte, schluckte er zwei Tabletten gegen die Kopfschmerzen, legte sich im Schlafzimmer angekleidet auf sein Bett und versank allmählich in einen leichten, unruhigen Schlaf.
In seinem Traum floh Mike durch einen unendlich langen, grauen Gang im Institut für Rechtsmedizin vor Laura. Je schneller er rannte, desto näher spürte er seine Verfolgerin hinter sich. Im ganzen Gebäude klingelten ohrenbetäubende Alarmglocken, und er konnte nicht verstehen, was Laura ihm zurief. Mit einem Ruck erwachte er. Die Alarmglocken klingelten weiter. Erst jetzt merkte er, dass es sein Handy war, das klingelte.
»Honegger«, antwortete er mit verschlafener Stimme.
»Herr Honegger? Es tut mir leid, Sie zu wecken. Mein Name ist Meyer-Lang.« Die Stimme am anderen Ende tönte verschwörerisch, fast als ob sie nicht zu laut werden durfte, als ob jemand das Gespräch unerlaubt überhören könnte.
»Meyer-Lang?« Er war aus seinem Albtraum noch nicht ganz erwacht und erkannte den Namen nicht sofort.
»Ja. Ich bin die Beamtin, die mit den Polizisten an die Aare kam, wo die Leiche gefunden wurde.«
Mike setzte sich auf den Bettrand.
»Woher haben Sie meine Nummer?«, fragte er überrascht.
Meyer-Lang wartete einen Moment mit ihrer Antwort.
»Herr Honegger, ich weiß, wie eine Nummer zu finden ist. Aber lassen wir das. Ich habe gehört, Sie wollten mehr über den Mord herausfinden und erhielten am Waisenhausplatz von der Polizei keine Antworten. Ich kann nur kurz mit Ihnen sprechen, also hören Sie mir jetzt bitte gut zu. Von ganz oben kam der Befehl, diesen Fall zu, wie soll ich sagen, zu … löschen. Der Befehl machte unmissverständlich klar: Die Leiche in der Aare wurde nie gefunden, denn es gab keine Leiche. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Und noch etwas, Herr Honegger, dieser Anruf fand nie statt, ok?«
Mike brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sammeln. Seine Kopfschmerzen halfen ihm dabei nicht.
»Ich verstehe, kein Problem. Warum fand er nie statt? Was soll das alles bedeuten?«
»Herr Honegger, passen Sie auf sich auf. Sie spielen mit dem Feuer. Lassen Sie die Angelegenheit lieber ruhen. Ich muss gehen, auf Wiedersehen.«
»Wie kann ich Sie erreichen?«
Jacqueline Meyer-Lang hatte bereits aufgelegt. Der Anruf war beendet.
Hatte sie ihn mit ihren letzten Worten lediglich warnen wollen oder hatte sie ihm soeben gedroht? Warum sollten ihn seine Recherchen in Gefahr bringen?
Er suchte im Handy nach eingegangenen Anrufen und war nicht überrascht, beim letzten Anruf den Eintrag ›Nummer unbekannt‹ zu finden. Wenn Meyer-Lang bei der Polizei arbeitete, warum hatte er sie dort nicht finden können? Wer war diese Frau? Warum hatte sie ihn angerufen?
Er legte sich wieder hin und hoffte, seine Kopfschmerzen würden endlich nachlassen. Mit geschlossenen Augen begann er die Ereignisse vor zwei Tagen an der Aare durchzugehen. Die Leiche, die Polizisten, Jacqueline Meyer-Lang, das Mädchen. Elvira. Mike sprang auf, packte seine Schwimmsachen in einen kleinen Sportrucksack und verließ seine Wohnung.
Er legte sein Badetuch am oberen Ende der Liegewiese in das noch feuchte Gras und setzte sich so darauf, dass er den Eingang in das Freibad Marzili gut überwachen konnte. Außer einer Gruppe pensionierter Männer und Frauen, die so früh am Morgen im Schwimmbecken Längen schwimmen wollten, trat niemand durch den Eingang. Mike nahm sein Handy in die Hand und rief Verena an.
»Warte, Mike, ich gehe schnell in einen der kleinen Anrufräume … So, jetzt bin ich im Rümli, und die anderen in unserem Büro können mich nicht hören. Du, Mike, der Werdenberger ist weiterhin verärgert und wiederholt, er sei froh, dich los zu sein.«
»Also erübrigt sich meine Frage, ob ich eine Chance auf Wiedereinstellung habe.«
»Ja, das ist so. Ich denke, du hast keine Chance. Du hättest wirklich an den Artikeln arbeiten sollen. Übrigens ist von der Polizei immer noch keine Meldung zu deinem Mann in der Aare eingegangen.«
Mike erzählte ihr kurz, was seit vorgestern geschehen war und was er herausgefunden hatte.
»Wow, Mike! Du hast Recht, da ist etwas faul. Bist du aber sicher, dass es sich lohnt, die Geschichte weiter zu verfolgen? Du hast bereits deinen Job verloren! Und all den Ärger nur, um am Schluss vielleicht einen Artikel über einen einfachen Mord zu veröffentlichen?«
»Ja, ich bleibe dran. Nachdem Werdenberger mich gefeuert hat, erst recht.«
»Du solltest damit aufhören und anstatt Klatschreporter zu spielen, lieber deine Bewerbung schreiben.«
»Nein, es gibt für mich kein Zurück. Der Fall sollte sowieso bald geklärt sein. Wirst sehen.«
»Also, du musst wissen, was du tust; aber pass auf dich auf, gell?«
Die ersten Familien ließen sich erst nach Mittag auf der Wiese nieder, wo sie ihre Picknicks ausbreiteten und mit ihren Kindern spielten. Gegen die Langeweile und um sich wieder etwas zu bewegen, spazierte Mike zwischendurch zur Aare und zurück, ohne den Eingang aus den Augen zu lassen. Gegen 15 Uhr betraten zwei Frauen und zwei Mädchen mit einem großen, roten Sonnenschirm und einem aufblasbaren Delfin unter den Armen die Wiese. Eines der beiden Mädchen trug eine rote Baseballkappe und blickte zu Mike, ohne ihn zu erkennen. Es war Elvira. Er wartete, bis sie sich in der Nähe der Außenduschen niedergelassen hatten und ging dann auf sie zu.
»Guten Tag, mein Name ist Mike Honegger. Ich war vor zwei Tagen dabei, als Elvira … als sie in der Aare etwas fand.« Elvira hatte ihn inzwischen