„Ach, Junge“, flüstert sie vor sich hin, „was hast du nun wieder angestellt und das zu nachtschlafener Zeit?“
Bereits des Öfteren sagte ihr die innere Stimme, wenn dem Jungen etwas Schlimmes widerfahren ist. Zumeist wusste sie dann indessen Beistand in seiner Nähe. Heute hingegen ist alles so ungewöhnlich. Es geht ihm schlecht, aber er hat keine Schmerzen.
Die Alte schließt nachdenklich die Augen und dann weiß sie es: der Suff hat ihren Liebling niedergerungen! „Warts ab, Bürschlein!“, schnieft sie durch die lückenhaften Zähne, „Dir werde ich schon das passende Kräutlein verabreichen, dass dir nie wieder in den Sinn kommt zu saufen!“
Zielsicher greift sie im Dunkeln nach einem Säckchen, das von der niedrigen Decke herabhängt und schlingt sich ein wollenes Tuch um die Schultern. Sie schlüpft in die Pantoffeln und verlässt eilig das Häuschen.
Wie allen Vorstädtern sind ihr die Unzulänglichkeiten in der Stadtbefestigung wohlbekannt, so dass sie die Mauern passieren kann, ohne die Stadtwache zu bemühen. Nicht weit vom Johannistor, zum Bretturm zu, kennt sie einen engen Durchlass. Den pflegt sie zu nutzen, wenn sie zu städtischen Kranken gerufen wird, die dem Bader nicht trauen, den Medikus nicht bezahlen können und doch Hilfe brauchen. In solchen Fällen ist der heimliche Besuch von größtem Vorteil.
Eilig hastet sie durch die dunklen Gassen zum Markt, wo sie den Nachtwächter, über einen dunklen Schatten gebeugt, stehen sieht.
„Was ist mit ihm, Nik?“, flüstert sie und hockt sich neben den Wachmann. Jetzt erkennt sie die jämmerlich hilflose Gestalt des Betrunkenen.
„Was soll schon mit ihm sein? Es braucht keine feine Nase, die Ursache seines Zustandes zu erkennen. Stockbesoffen ist der feine Herr und seine eklige Kotze hat mein Beinkleid ruiniert. Ich denke, der Kerker wird ihn zur Besinnung bringen!“, schimpft der Wachmann.
Beschwichtigend winkt die Alte ab. „Was soll das Gekeife, Nik?! Warst du nie betrunken? Mir sind da andere Dinge zu Ohren gekommen. Ich glaube nicht, dass ihn die Nacht im Kerker bessert. Ganz sicher wird damit die Stelle des Schreibers weg sein und das kann nicht deinem Interesse entsprechen!“
Nik bekundet durch ein mürrisches Nicken seine Zustimmung, was Mechthilde nur mit Mühe in der Finsternis des nächtlichen Gassengrundes zu erkennen vermag. Drängend zischt sie: „Also los, tragen wir ihn flugs in seine Gasse, bevor ihn jemand in diesem Zustand sieht!“
Dieses Ansinnen ist dem Nachtwächter freilich zuwider. „Das fehlt gerade noch, Alte! Nicht nur, dass ich jämmerlich nach dem Gekotzten rieche, jetzt soll ich auch noch hineinfassen?! Des Tischlers Karren wird dem Trunkenbold schon das passende Gefährt sein und wenn dieser Transport gesehen wird – unser Problem ist das nicht.“ Spricht es und eilt davon, seine Worte in Taten umzusetzen.
Mechthild indes lauscht in die nachtstille Stadt, ob da nicht doch ein heimlicher Beobachter zu bemerken sei, bereit, den Ruf des jungen Stadtschreibers zu verderben. Nicht allzu viel später erklingen die polternden Fahrgeräusche des Karrens, die in ein Scheppern übergehen, als der Nachtwächter auf Höhe der Sankt Johannisgasse auf das Marktpflaster einbiegt. Eilig hebt Mechthild die Beine ihres Schützlings, während ihn Nik unter den Achseln erfasst. Gemeinsam wuchten sie den Hilflosen auf das Gefährt und die Alte hofft inständig, dass trotz des Lärms niemand auf das Geschehen aufmerksam wird.
Eben haben sie die Einmündung Uff der Bach in die Lange Gasse erreicht, die hier nach links weg Hinter der Bach benannt ist, als im Hause des Stange ein Fensterladen aufgestoßen wird. Gespenstig weiß schimmert das Gesicht des alten Andreas im dunklen Geviert des Fensters und im zahnlosen Zischen klingt die Frage durch die Nacht, was zu dieser Zeit so dringlich zu transportieren sei.
„Mach die Luke wieder zu, Stange, sonst schütte ich dir den Bottich Jauche vor die Tür!“, bellt der Nachtwächter, worauf der helle Schatten verschwindet und ein dumpfer Knall das Schließen des Fensters bekundet.
Eilig drückt Nik den Karren in die Gasse und Mechthild legt sich ordentlich ins Zeug, das Gefährt zum Prescherchen Anwesen zu bringen. Nur weg aus der Gasse!
Als endlich das Haus des Tischlers erreicht ist, hallt laut das ungeduldige Klopfen der schwieligen Fäuste durch die Gasse. „He, Meister Prescher, macht auf! Ich bringe da ein stinkendes Stück Scheiße!“, dröhnt des Nachtwächters Stimme wenig feinfühlig, dass Mechthild sich genötigt fühlt, Einhalt zu gebieten. „Schweig, Schwachkopf! Wenn du solchen Lärm machst, dann hättest du ihn auch gleich auf dem Markt liegen lassen können! Ich frage mich, was du im Schädel hast. Wenn du nicht gerade isst, scheint er einfach nur leer zu sein!“
„Hö, hö, sieht so dein Dank für die Hilfe aus, Weib? Ich frag mich, wieso ich überhaupt geholfen habe!“ Nik scheint ernsthaft beleidigt, wer lässt sich gern – und wenn es auch gut umschrieben ist – dumm nennen und so lenkt die Alte ein: „Sei nicht zimperlich, bist keine Jungfer! Aber wenn du die ganze Stadt weckst, hättest du ihn gar nicht erst hierherbringen müssen. Kannst dir morgen vom jungen Prescher einen Krug Bier spendieren lassen für deine Mühe.“
Endlich kündet ein Rumoren im Haus an, dass sie zur Kenntnis genommen wurden. Eben gibt der Riegel die Tür frei und sie öffnet sich leise knarrend nach innen, als sich der Betrunkene auf dem Karren ächzend erhebt.
„Oh Gott“, stöhnt er röchelnd, „was habe ich angestellt? Wer kann die Maß Bier zählen, die ich in mich hineingeschüttet habe! Nie wieder werde ich auch nur einen Tropfen von dem Gesöff trinken. Wenn mich so mein Marthel sieht, die jagt mich von dannen!“
„Und sie täte recht daran!“, erklingt die Stimme des Tischlermeisters, der kein bisschen schlaftrunken scheint „Jedenfalls war dir in der Gastwirtschaft offensichtlich dein Weib völlig egal, genauso wie auch die Schreibstube des Rates und die Gunst deiner Gönner! Aber glaube nicht, dass du in meiner Werkstatt wieder ein Auskommen findest! Eigentlich sollte ich dich gleich aus dem Haus jagen!“
Unter den Worten des Vaters duckt sich Ruprecht immer weiter. Der Meister hat recht! Wie konnte er alles vergessen und sich so gehenlassen?
„Genug geschimpft“, ertönt die besorgte Stimme der Mutter aus der Dunkelheit, „gib nun den Weg frei, dass er endlich ins Haus kommt. Oder meinst du vielleicht, dass die Nachbarn dies als Geschäftsempfehlung für den Tischlermeister Prescher ansehen?“
Entschlossen schiebt die Meisterin ihren Mann weg und stemmt die Arme in die Seite, um das elende Bündel zu betrachten, das sich im schwachen Widerschein als ihr Sohn darbietet. „So sieht also ein rechter Suffkopf aus! Möchte wissen, wie du morgen den Griffel über die Tafel führst.“
Endlich bückt sie sich, um ihren Sohn gemeinsam mit Mechthild von der Karre zu heben. Dabei entgeht ihr, wie sich der Tischler und der Nachtwächter gegenseitig anrempeln und grienen. Letzterer kann sich nicht verkneifen zu brummen: „Lass nur die Weiber schleppen, deswegen wird dem Kerl lange nicht die Lust am guten Schluck vergehen. Nur muss er das rechte Maß erkennen.“ Entschlossen tippt er an den Hut und wendet sich ab, seinen Rundgang fortzusetzen.
Einsam klingt sein Schritt durch die Nacht, vermittelt den Bürgern sichere Geborgenheit.
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