Begegnungen mit Bismarck. Robert von Keudell. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert von Keudell
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783806242683
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erklärte er in seinen einleitenden Bemerkungen: „Solche [Tagebuchnotizen] haben nur Wert, wenn sie auf Aufzeichnungen beruhen, welche damals in der Gegenwart gemacht wurden, weil solche, welche aus der Erinnerung nach langen Jahren gemacht, notwendig beeinflußt sein müssen durch die seitdem erlebten Tatsachen. Allerdings muß man dann auch die Selbstverleugnung üben, zur Zeit gefällte Urteile nicht zu modifizieren, sondern sie in ihrer Schiefheit bestehen zu lassen.“ Ballhausen wählte also im Vergleich zu Keudell einen geradezu gegenteiligen Ansatz, der versuchte, sich von der Gegenwart möglichst weit zu befreien und genau deswegen darauf verzichtete, die Erinnerungen noch zu Lebzeiten des Autors zu veröffentlichen. Das bedeutet natürlich nicht, dass Ballhausen seine Erinnerungen überhaupt nicht nachträglich einfärbte beziehungsweise versuchte, sein bevorzugtes Bild von Bismarck zu zeichnen. Auch seine Darstellung ist nicht frei von befangenen Lobgesängen. Insgesamt gesehen produzierte er jedoch ein sehr viel kritischeres Werk als Keudell, in dem er seine eigene Rolle bemerkenswert nüchtern betrachtet.16

      Zusammengenommen decken Keudells und Ballhausens Erinnerungen den gesamten Zeitraum ab, in dem Bismarck an die Spitze der preußischen Regierung aufstieg, den Vereinigungsprozess steuerte und schließlich die Geschicke des neu gegründeten Reiches bestimmte. Keudells Darstellung umfasst die Jahre 1846 bis 1872. In zwölf chronologisch geordneten Kapiteln schildet er jeweils das erste Kennenlernen mit Bismarck, die Zeit beim Bundestag in Frankfurt, Bismarcks musikalische Vorlieben, die drei Jahre am Petersburger Hof, die Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten, den Deutsch-Dänischen Krieg, das Auseinanderbrechen der Koalition mit Österreich, das Ende des Deutschen Bundes, den Deutsch-Deutschen Krieg, die Gründung des Norddeutschen Bundes, den schwierigen Ausbau des neuen Bundesstaates und schließlich den deutsch-französischen Krieg, die Einigungsverhandlungen und den Abschied aus den Diensten des Kanzlers.

      Bismarck im Hauptquartier von Versailles 1871, rechts neben ihm sitzend Paul von Hatzfeld und Robert von Keudell, stehend v. l. n. r. Graf von Wartensleben, Wellmann, Graf von Bismarck-Bohlen, Blanquart, Delbrück (mit Zylinder), Zezulke, Bucher, Wiehr, Abeken, Willisch, Dr. Busch, Taglioni, Wagner und von Holstein.

      Ballhausens Erinnerungen beschreiben hingegen die Zeit von der Eröffnung des ersten gesamtdeutschen Reichstages 1871 bis zu Bismarcks Rücktritt 1890. Die insgesamt fast 600 Seiten starke Darstellung ist in zwanzig Kapitel gegliedert, die jeweils ein Jahr von Bismarcks Kanzlerschaft behandeln. Dabei kommt das Ringen um innen- und außenpolitische Entscheidungen genauso zur Sprache wie die zahlreichen Krisen und Intrigen des Berliner Regierungsbetriebes, Bismarcks häufige Strategiewechsel und Stimmungsschwankungen und seine zahlreichen Auseinandersetzungen mit Parlamentariern, Journalisten, Ministern und dem Kaiser.

      Je nach persönlichen Interessen findet jede Leserin und jeder Leser in diesen reichhaltigen Erinnerungsdokumenten andere Schätze. An dieser Stelle möchte ich daher beispielhaft nur zwei Passagen nennen, die für mich als Verfassungshistoriker besonders faszinierend sind. In seinem Kapitel über die Gründung des Norddeutschen Bundes schildert Keudell eingehend, wie Bismarck im Herbst 1866 die Grundkonzeption für die künftige Verfassung des Deutschen Reiches entwickelte. Dabei durchsetzt Keudell die Beschreibung seiner eigenen Erlebnisse mit zahlreichen Briefen und Dokumenten. Darunter sind zwei der wichtigsten Aktenstücke zur Genese der Reichsverfassung überhaupt: die sogenannten Putbuser Diktate, die Keudell erstmals der Öffentlichkeit zugänglich machte. Bei diesen Schlüsseldokumenten der deutschen Verfassungsgeschichte handelte es sich um detaillierte Anweisungen, die Bismarck während eines Erholungsurlaubes im pommerschen Ostseebad Putbus vermittels Keudell nach Berlin schickte, um die dortigen Stellen darüber zu informieren, wie das politische System des sich nach dem Sieg über Österreich gerade formierenden norddeutschen Bundesstaates zu gestalten sei.17

      Ballhausen gibt uns wiederrum in seinem Kapitel über das Dreikaiserjahr 1888 einen faszinierenden Einblick in die Erbfolgepolitik, die sich hinter den Kulissen des Berliner Politikbetriebes abspielte, sobald nach dem Tode des alten Kaisers Wilhelm klar war, dass dessen Sohn Friedrich, der Hoffnungsträger der Liberalen, wegen eines fortgeschrittenen Kehlkopfkrebsleidens nur kurz regieren und der Thron bald an den viel konservativeren, erst 29-jährigen Kronprinzen Wilhelm übergehen würde. Ausführlich beschreibt Ballhausen, wie sich Friedrich bemühte, wenigstens kleine Teile seines liberalen Programms in der ihm verbleibenden Zeit umzusetzen, und wie sich Bismarck mit allen Mitteln dagegen wehrte. Schonungslos schildert er dabei auch, wie der Kanzler unter Androhung des Rücktritts der gesamten Regierung den todkranken, schon seiner Stimme beraubten und im Rollstuhl sitzenden Kaiser dazu zwang, ein Gesetz, das dieser nicht hatte unterschreiben wollen, doch auszufertigen. Nicht ohne kritischen Unterton veranschaulicht Ballhausen die Motivation hinter derartigen Aktionen durch die Wiedergabe der Aussage seines Chefs, dass die gegenwärtigen Regierungsgeschäfte „schon mehr mit Rücksicht auf den Thronfolger“ abzuwickeln seien. Diesen Zusammenhang verdeutlicht Ballhausen noch zusätzlich dadurch, dass er kurz nach der erwähnten Episode einen Fall beschreibt, in dem Bismarck dem Kaiser sein Vetorecht nicht absprach, sondern ihn dazu ermutigte, davon Gebrauch machen, weil er hoffte, so den für das betroffene Gesetz zuständigen, zur bedrohlichen Clique des Kronprinzen gehörenden Minister bloßzustellen und idealerweise schon einmal vorsorglich loszuwerden, wozu es schlussendlich dann auch kam.18

      Wenn wir solche Passagen lesen, müssen wir stets im Hinterkopf behalten, dass Keudell und Ballhausen natürlich nicht immer alles historisch akkurat schildern. Im Lichte des heutigen Forschungsstandes zu Bismarck und seiner Zeit erkennen wir schnell, dass die beiden autobiographischen Aufzeichnungen solch komplexe Ereignisse wie die Entstehung der Verfassung oder das Dreikaiserjahr mal überspitzt und mal nur ausschnittsweise darstellen. Vor allem im Fall von Keudell sind die Verzerrungen mitunter groß. So schildert dieser die Entstehung der Schlussversion des Verfassungsentwurfs als einen spontanen Geniestreich seines Chefs. Bismarck habe „mit der fürstlichen Gelassenheit […] die ersten, wichtigsten Abschnitte des Entwurfs, nämlich über den Bundesrat […], das Präsidium und den Reichstag […] angeblich teils im Wortlaute, teils in Anweisungen zur Ausarbeitung“ erst am Nachmittage vor der entscheidenden Sitzung des preußischen Kronrates einfach aus dem Kopf heraus diktiert. In Wirklichkeit ging der Verfassungsentwurf, den Bismarck einige Wochen später zuerst einer Regierungskonferenz der deutschen Einzelstaaten und dann dem konstituierenden Reichstag vorlegte, auf umfangreiche Vorarbeiten von verschiedenen Ministerialbeamten, Juristen und Beratern Bismarcks zurück, wie wir heute wissen.19

      Angesichts derartiger Verzerrungen müssen wir Keudells und Ballhausens Erinnerungen – wie jede andere autobiographische Quelle auch – mit Vorsicht genießen und im Zweifelsfall mit dem aktuellen Forschungsstand abgleichen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie als Informationsquellen vollkommen kompromittiert sind. Im Gegenteil: Jede Verzerrung, die wir ausmachen, verrät uns etwas über den Bismarck-Kult, zu dessen Narrativ die beiden Werke nach ihrer Veröffentlichung beitrugen. So ist es durchaus vielsagend, dass Keudell den Drang verspürte, den ohnehin großen Anteil seines Chefs an der Ausarbeitung der Verfassung noch weiter zu überhöhen. Denn diese Übertreibung zeigt uns, dass bestimmte Kreise Bismarck nicht nur als Staatsgründer, sondern auch als Verfassungsvater verehrt wissen wollten.

      Alles in allem gleichen die Bismarck-Erinnerungen Keudells und Ballhausens also einem Paar Scheinwerfer, die Licht auf das Phantom im Nebel werfen, dabei aber – wie jede andere intensive Lichtquelle auch – das, was sie beleuchten, zu einem gewissen Grade verzerren. Es liegt an uns, diese Unschärfe zu korrigieren, indem wir unseren Blick weiten und das, was wir im Schein des einen Lichtkegels erkennen, zusammen mit dem betrachten, was wir durch die Leuchtkraft anderer Lichtquellen sehen können. Tun wir das, so können wir mithilfe der Aufzeichnungen Keudells und Ballhausens das Phantom im Nebel ein ganzes Stück weit besser ausmachen. Das gilt nicht zuletzt insofern, als dass die beiden uns auf ihre jeweils eigene Weise vergegenwärtigen, dass für die so umstrittene historische Figur Bismarck ganz besonders die Schlussfolgerung gilt, die Thomas Nipperdey am Ende seiner epochalen Darstellung des Kaiserreiches für die Geschichte insgesamt gezogen hat: „Die Menschen unterschieden sich nicht in gute und böse, das Kaiserreich war nicht gut und nicht böse oder nach Gutem und Bösem deutlich unterscheidbar: Die Grundfarben der Geschichte sind nicht Schwarz und Weiß, ihre